Wo hat man bloß diesen Text abgelegt?

Kurzprosa | Hartmut Abendschein: Dranmor
Kunstvoll erzählt Hartmut Abendscheins Dranmor vom Schriftstellerwahnsinn. Von PEGGY NEIDEL


Hartmut Abendschein: Dranmor
Nicht umsonst beginnt die Erzählung Dranmor mit einem Zitat aus Alice im Wunderland. Es geht um Fieberträume, gespaltene Persönlichkeiten, Pilze in Wänden und sprechende Schnapsfläschchen. Verrückt. Oder doch nur der ganz normale Wahnsinn im Leben eines Schriftstellers. Der Ich-Erzähler ohne Namen wohnt in der Schweiz. Sein Hausmeisterjob erfüllt ihn wenig, aber man schlägt sich so durch. Nachdem er wiederholt auf einen lästigen Pilzschwamm im Gebäude hinwies, wird ihm die Stelle gekündigt, ein Jugendfreund taucht auf und der Name eines vergessenen Berner Dichters fällt. Dranmor, bürgerlich Ferdinand Schmid, müsse dringend posthum (er starb 1888) gewürdigt werden.

Der Erzähler mit Schreibblockade beginnt, in Archiven zu wühlen, Bücher, Notizen und Aufzeichnungen zu sichten. Bald verriegeln die Berge vor dem Haus jeden Blick ins Außen: »Die drei Phasen der Bergkulisse verschwinden. Schwimmen ineinander. (…) Der Nebel legt einen Schleier über die Kanten. Alles wird grau. Kartoffelsalat und Leberkäse: kalt und grau.« Die Bücherberge wachsen, der Alkoholkonsum steigt, die Realität verabschiedet sich. »Die Alpen sind lebendig geworden, (…) finde ich an einer Stelle, als ich nicht mehr weiter weiß und nachschlagen muss. Wo hat man nachgeschlagen? Der Bleistift bricht.«

Nach einer weiteren Kündigung dann der Umzug in den Keller, der bald einem brodelnden Labor gleicht, einer literarischen Hexenküche. Die Geister, die der Erzähler rief, lassen ihn nicht los, bis es nach einer »starken Hitze- und Dampfentwicklung im Bad« überall »zischt und schmatzt« und plötzlich wie von Zauberhand geschrieben eine Abschrift aus dem Vorwort der Gesammelten Dichtungen von Dranmor erscheint. Doch das ist noch nicht das Ende. Das folgt nach eingehender Beratung mit den sprechenden Schnapsflaschen. Der Erzähler exhumiert die Leiche eines angeblichen Dranmor-Biographen, bis ihn die Polizei aufgreift und in die Irrenanstalt einweist.

Der verarmte, von seiner Frau verlassene Schriftsteller im Dachkämmerchen, der Rausch und Wahnsinn verfällt. Welch ein Klischee. Oder: welch ein literarischer Topos. Kunst und Leben im Clinch. Gibt es überhaupt einen Schriftsteller, der darüber nicht bereits nachgedacht hat? Oder daran zerbrochen ist. Selbstverständlich ist das dem Autor bewusst, er lädt den Text reichlich mit Anspielungen auf, Nacht- und Schauermotive der Romantik werden herangezogen, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Lord Byron zitiert, aber vor allem die Nachtwachen des Bonaventura: »Oh Freund Poet, wer jetzt leben will, der darf nicht dichten«.

In Hartmut Abendscheins Erzählung Dranmor geht es um alles – im Leben eines Autors. Um die Frage nach Verortung und Identität des Schriftstellers, parallel dazu um die Perspektive innerhalb der Erzählung, darum, was der Autor tut und was er ist (»Sie sind doch Sklave einer Halluzination«), was Pilze ausrichten können, im Mauerwerk als auch im Mund. Es ist eine Hommage an das gedruckte Wort (»Von Zeit zu Zeit schnuppere ich an dem süssen, rauchigen Buchrücken«) oder, um es mit dem mehrfach zitierten Jean Paul zu sagen: »Die Dichtkunst ist eine lange Liebe.« Und wer war vor Liebe nicht schon einmal krank?

Hartmut Abenscheins Dranmor könnte man belächeln, weil es thematisch altmodisch daherkommt. Doch die Erzählung ist eher zeitlos: äußerst kunst- und stilvoll wird ein Verfall dokumentiert, der Versuch des Zur-Sprache-Findens.

| PEGGY NEIDEL

Titelangaben
Hartmut Abendschein: Dranmor
Oberhausen: Athena-Verlag 2012
168 Seiten. 14,90 Euro

Die Rezension wurde zuerst veröffentlicht in der Jungen Welt vom 20./21. Oktober 2012.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gedanken eines Verzweifelten

Nächster Artikel

Bücher entstehen aus Fragen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Laura

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Laura

Sie war aus der Therapie ausgestiegen, es reichte ihr, sie hatte genug von dieser Methode, die Dauer des Lebens zu verlängern, vermutlich war so etwas von Nutzen für die Statistik, und doch war es lediglich das Sterben, das in die Länge gedehnt wurde, nein, Jürgen hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, sagte Tilman, er werde das später erklären, sie ruhte einige Schritte entfernt von Kapelle neun, Ohlsdorf, eingeäschert.

Melancholischer Pessimist mit Humor

Menschen | 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer Vor 100 Jahren (am 9. Dezember) wurde der Georg-Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer geboren. Von PETER MOHR

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Zu guter Letzt wird alles einfach, sagte der Zwilling, wutsch!, und unsere Probleme sind vom Tisch.

Wie, unsere Probleme sind vom Tisch.

Vom Tisch. Weg. Nicht mehr da.

Sind gelöst?

Der Zwilling lachte.

Es gibt sie nicht mehr, verstehst du, sagte Crockeye.

Nein, sagte Bildoon, verstehe ich nicht.

Ferne III

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne III

Seltsam, sagte Sut, sei, sich gegen Zukunft abzugrenzen.

Bildoon verstand das Problem nicht. Ein Problem? Jedenfalls klang es danach. Und überhaupt, wie kam Sut dazu, sich gegen die Zukunft abzugrenzen – das war starker Tobak, auf diesen Gedanken mußte jemand erst einmal kommen. Bildoon wurde neugierig.

LaBelle sah eine Sternschnuppe aufblitzen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Die Flammen schlugen hoch.

»Saint Genet« – Eine moderne Heiligenlegende?

Menschen | Jean Genet ist vor 100 Jahre geboren Von der Mutter, einer Prostituierten ausgesetzt, der Fürsorge überstellt, Fremdenlegionär, er desertiert, schlägt sich als Dieb, Strichjunge durchs Leben. Die Folge: Besserungsanstalten, Gefängnis. Die drohende lebenslängliche Verbannung wird nach Fürsprache von Cocteau und Sartre aufgehoben. Die Rettung: Schreiben. – Am 19. Dezember vor 100 Jahren ist Jean Genet geboren. Von HUBERT HOLZMANN