Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert
Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft. Von WOLF SENFF
Camus stand im Tor, Pitous weiß die eine oder andere Anekdote zu erzählen, es gibt ein Mannschaftsfoto. Beide 1913 geboren, wohnten im selben Viertel Algiers, in Belcourt, lernten einander wohl im Alter von neun Jahren in der Grundschule kennen und blieben einander dank ihrer Fußballbegeisterung auch verbunden, als Camus, ein hochintelligenter Schüler, nach zwei Jahren aufs Gymnasium wechselte; erst 1931 trennten sich ihre Wege, der Brief wurde vermutlich 1971 verfasst.
Erinnerungen an einige Jahre gemeinsamer Jugend, Anekdoten: etwa die, dass Camus in seine Mannschaft ›Racing Universitaire Algerois‹ den Freund einschmuggelte, der dann tatsächlich den Siegtreffer erzielte. »Und ich war der Schütze!«, schreibt Pitous. Viel Aufregung in diesem Vorspiel zur Eröffnung des neuen ›Stade Municipal‹ im Stadtteil Le Ruisseau – genießerische Erinnerungen und vielleicht doch heimliche Eitelkeiten?
Man liest diesen persönlich gehaltenen Text gern, er ist in einem angenehmen Ton geschrieben, unaufdringlich, ohne Effekthascherei; die freundschaftlichen Gefühle sind unverkennbar, das Selbstbewusstsein, der Stolz auf den Freund. Auf sympathische Weise wird uns die jugendliche Persönlichkeit Camus‘ nahegebracht, man ist versucht, vielleicht doch noch einmal ›Die Pest‹ aufzublättern, und wird nicht gerade ›Der Fremde‹ am Thalia-Theater inszeniert?
Neues Interesse für hochaktuellen Autor
Camus‘ Biographie kann man kaum als gradlinig bezeichnen. Nachdem er aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung zunächst nicht als beamteter Gymnasiallehrer eingestellt wurde, arbeitete er seit 1938 als Gerichtsreporter und begab sich damit mitten hinein in die Problemlage einer Stadt, in der acht Millionen einheimische Araber von achthunderttausend ›Algerienfranzosen‹, Nachkommen französischer, spanischer und italienischer Einwanderer, beherrscht wurden.
In seinem zu dieser Zeit entstehenden Essay ›Le mythe de Sysiphe‹ stellt er das menschliche Dasein als fundamental absurd, aber dennoch als lebenswert, ja glücklich, dar. Er ging 1940 nach Paris, führte jedoch ein ruheloses Leben und trat ein Jahr später eine Stelle als Lehrer in Oran an … nein, nicht gut – niemand kann eine derart komplexe Biographie in ein, zwei Sätzen zusammenfassen, wir können bestenfalls Interesse für diesen Autor wecken, der die Tradition des Existentialismus begründen half, die ihrerseits in das ›Theater des Absurden‹ mündete und in den ›Film Noir‹.
Albert Camus wurde im Jahr 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Der hier rezensierte kleine Text ›Mon cher Albert‹ möchte ebenfalls dazu beitragen, neues Interesse für diesen bei Lichte betrachtet hochaktuellen Autor zu wecken.
Titelangaben
Abel Paul Pitous: Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus
(Mon cher Albert. Lettre à Albert Camus, 2013)
Deutsch von Brigitte Große
Zürich und Hamburg: Arche 2014
96 Seiten. 12 Euro