Marktwirtschaft oder Marktgesellschaft

Gesellschaft | Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes

Schulen zahlen Schüler fürs Lernen, Krankenversicherungen die Versicherten fürs Abnehmen und Strafgefangene für eine bessere Zelle, Firmen zahlen für Werbetätowierungen auf der rasierten Kopfhaut und Jagdbesessene für den Abschuss eines Tiers von der Roten Liste. Alles ist käuflich geworden, so scheint es. Tatsächlich aber doch noch nicht alles, und diese Restbestände interessieren Michael J. Sandel in Was man für Geld nicht kaufen kann ganz besonders. Von PETER BLASTENBREI

GeldZuerst muss auf ein Übersetzungsproblem hingewisene werden. Die Übersetzung ist routiniert und problemlos. Doch wäre die Lektüre für deutsche Leserinnen und Leser gewiss einfacher, wenn anstelle von »Moral« und »moralisch« »Ethik« und »ethisch« stehen würde. Denn genau darum geht es, um Ethik, um das richtige Verhalten in der Gemeinschaft angesichts der rasant vordringenden Umwandlung menschlicher Beziehungen in Marktbeziehungen. Sandel, Professor für Ethik in Harvard, konstatiert seit den 1990er Jahren eine zunehmende Einmischung von Wirtschaftswissenschaftlern in Bereiche, die bisher Philosophen, Pädagogen, Literaten oder auch Theologen vorbehalten waren.

Einer der frühesten und rabiatesten Vertreter dieser neuen Wirtschaftswissenschaft, Gary Becker, hat schon 1976 allen Ernstes erklärt, jeder Mensch treffe sein Leben lang nichts als Marktentscheidungen und selbst Liebe oder Familiengründung unterlägen einer »latenten Preisstruktur«. Dem stellt Sandel die Forderung nach einer breiten ethischen Debatte gegenüber. Wenn die Wirtschaftswissenschaftler zunehmend ihren Kernbereich, den Markt für echte Waren, verließen, müssten sie sich einer solchen Debatte mit allen Konsequenzen stellen. An einer Reihe von Beispielen aus der Praxis zeigt Sandel, wie die angebliche Wertneutralität von Marktbeziehungen längst vielfach widerlegt worden ist, meist zum Schaden der Gemeinschaft.

Triumph und Horror des Marktes

Die klassische ökonomische Theorie besagt, dass Marktverhalten, Kauf und Verkauf, das Einpassen in ein Preisgefüge, das Bewerten nach dem einzigen Kriterium Geld, Waren in ihrer Substanz nicht verändert, nicht zum Guten und nicht zum Schlechten. Sandel lässt dies für Schweinehälften und Winterreifen gelten, denn er argumentiert ausdrücklich als Befürworter der Marktwirtschaft. Werden aber soziale Beziehungen marktförmig gestaltet, unterliegen sie plötzlich einer Bewertung in Geld, wird ihre Substanz, so Sandel, sehr wohl verändert und korrumpiert.

Notwendige gesellschaftliche Werte wie Zuverlässigkeit, Mitleid, Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsgefühl, Bürgersinn, sozialer Kitt, wenn man so will, werden nachweisbar beschädigt oder ganz verdrängt, wenn ein bestimmtes Verhalten erst einmal mit Geld belohnt, »gekauft« wird. Sandels zweites großes Argument, die Fairness, ist vielleicht noch leichter zu verstehen. Denn wenn Konzerte oder Baseballspiele nur noch für Reiche zugänglich sind, sind Sport- oder Musikbegeisterte mit kleinem Geldbeutel massiv benachteiligt. Ließe man den Handel mit transplantierbaren Organen zu, könnten die Benachteiligten sogar zum Tod verurteilt sein.

Wie radikal darf Ethik sein?

Sandel reißt noch ein anderes wirtschaftsethisches Problem an. Was heißt das, wenn Gemeinden oder Schulbehörden aus schierer Finanznot Teile ihrer Funktionen sogenannten Sponsoren überlassen müssen? Können Schulen mit Werbung durchtränkte Lernmaterialien von Großfirmen einsetzen (in den USA seit den 1920er Jahren!) ohne den Sinn von Bildung zu beschädigen? Ginge Werbung auf Polizeiautos? Leider scheut sich der Autor, hier den Bankrott eines weiteren wirtschaftstheoretischen Dogmas zu benennen, der Unverträglichkeit von Markt und Staat. Längst schon arbeiten Staat und Wirtschaft diesseits und jenseits des Atlantiks friedlich zusammen, im Export, bei der Bankenrettung, bei der Marktanpassung öffentlicher Aufgaben.

Doch kann man von einem ethischen Anspruch aus wirklich eine künstliche Grenzlinie wie die zwischen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft ziehen, wie Sandel das tut? Kann man Marktwirtschaft einfach ausklammern, wo sie sich mit dem Austausch echter Waren beschäftigt, also außerhalb der traditionell der Ethik vorbehaltenen Felder agiert? Man muss ja gar nicht gleich an Waffenproduktion und Waffenhandel denken. Die USA sind aber auch das klassische Land der Lebensmittelspekulation, die ja immer Hunger mit einkalkuliert. Die Chicagoer Weizenbörse oder die Firma Monsanto betrieben aber nie etwas anderes als eben Warenaustausch im engeren Sinn. Ist ihr Tun deshalb ethisch neutral oder unangreifbar?

Was man für Geld nicht kaufen kann ist ein Buch mit vielen Anregungen und interessanten Gedankengängen. Doch bleibt der Eindruck, der Autor habe sich zu einer wirklich tiefgehenden Marktkritik nicht so recht entschließen können. In Stil und Duktus ist das Buch vollkommen auf das US-amerikanische Publikum zugeschnitten, auch die Beispiele stammen fast durchweg aus den USA. Ganze Kapitel wie das über den Zweitmarkt für Lebensversicherungen treffen für Deutschland gar nicht zu. All das schränkt die Brauchbarkeit des Buches hierzulande stark ein und bringt schließlich noch die Gefahr mit sich, dass man es wohlig schaudernd, aber beruhigt aus der Hand legt, ohne sich seinen Konsequenzen zu stellen.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben
Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes
(What Money Can’t Buy 2012)
Deutsch von Helmut Reuter
Berlin: Ullstein 2012
304 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kalt – sonst ohne Eigenschaften

Nächster Artikel

Keine Dampfwitze, Alter!

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Ungemein erfolgreich

Gesellschaft | H.Lorenz, L.Franke, G.Koppel (Hg.): Wer rettet Wen? – Die Krise als Geschäftsmodell / Auf DVD: L.Franke, H.Lorenz: ›Wer rettet wen? Die Krise als Geschäftsmodell auf Kosten von Demokratie und sozialer Sicherheit‹ Herdolor Lorenz und Leslie Franke genießen als Dokumentarfilmer einen besonderen Ruf, ihre Arbeiten sind stets dicht am Puls der Zeit. »Bahn unterm Hammer« (2007) begleitete die Debatte um die Privatisierung der Bundesbahn, »Water makes Money« (2011) erschien punktgenau zum Konflikt um die Privatisierung der Berliner Wasserversorgung. Von WOLF SENFF

Kein deutsches Wintermärchen

Gesellschaft | Jan Weiler: In meinem kleinen Land Nach dem Überraschungserfolg seines Debüt-Romans ›Maria, ihm schmeckt’s nicht‹ hatte Jan Weiler ausreichend Gelegenheit, seine Heimat auf Lesereisen zu erkunden – bis in die tiefste Provinz hinein. Dabei blieb ihm nichts erspart: übereifrige Buchhändlerinnen, trostlose Hotels und winterliche Bahnsteige. All diesen Unwägbarkeiten zum Trotz kommen seine Aufzeichnungen witzig und warmherzig daher. Von INGEBORG JAISER

Erschöpfte Gesellschaft

Sachbuch | Stefan Boes: Zeitwohlstand für alle

Eines ist über die Zeit allgemein bekannt: sie ist immer zu knapp. Warum das so ist? Das wissen wir dann wieder nicht. Wir benutzen Waschmaschinen und Geschirrspüler, fahren unentwegt mit Autos und warten nicht mehr auf die Post, weil wir schnell eine Mail schreiben. Wir sparen derart viel Zeit, dass sie unmöglich zu knapp sein kann. Dass sie es dennoch ist, gehört zu ihrem Wesen.
Der Journalist und Autor Stefan Boes ist der Frage nachgegangen, wohin die Zeit verschwindet und wie wir sie zufriedenstellender nutzen können. Seine Erkenntnisse hat er in dem Buch mit dem vielversprechenden Titel »Zeitwohlstand für alle. Wie wir endlich tun, was uns wirklich wichtig ist« zusammengefasst.

Klischees und Politik

Thema | Popmusik und Nationenwerdung: Ukrainische Teilnehmer beim Eurovision Song Contest Vor zehn Jahren hat Ruslana den Eurovision Song Contest gewonnen. Seither sind viele ukrainische Teilnehmer auf den vorderen Plätzen gelandet, doch nicht noch einmal auf Platz 1. Im Mai 2014 ist es wieder so weit. In diesem politisch für die Ukraine so brisanten Jahr ist Marija Jaremtschuk die ukrainische Repräsentantin beim Eurovision Song Contest. Warum war ausgerechnet Ruslana so erfolgreich? Wer ist Marija Jaremtschuk? Wie viel Ukraine repräsentieren Ruslana und Marija Jaremtschuk? Von JUTTA LINDEKUGEL

Wider die Hysterisierung der Trübsalafisten

Gesellschaft | Behnam T. Said: Islamischer Staat Am 29. Juni 2014 rief ein gewisser Abu Bakr al-Baghdadi, Chef einer Terrormiliz namens »Islamischer Staat«, ein neues Kalifat und sich selbst zum emir al-mu’minin, Führer aller Gläubigen, aus. Nach intern-islamischer Verabredung ist das zwar ein Ding der Unmöglichkeit, und bisher fällt dieser »IS« auch vor allem als kriminelle Vereinigung zum Zwecke des Raubens, Mordens und Brandschatzens auf. Aber er kann mit modernstem Equipment aus den erbeuteten Arsenalen gestürzter Tyrannen und gewieften Militär- sowie Medienstrategen für virale Propaganda punkten. Das brachiale Gebräu aus salafistischer Avantgarde-Archaik und digitaler Cleverness lockt junge Männer zwischen 18