Hast du keinen Kahn zur Hand, nimm den Bus

Roman | Alberto Manguel: Zwei Liebhaber des Schattens

Die beiden so eben bei S. Fischer erschienen neuen Kurzromane – so der Autor – Zwei Liebhaber des Schattens von Alberto Manguel führen den Leser in die Dunkelkammer des Hades. Die Aufnahmen eines Fotografen als auch die Heimreise eines Südamerikaners verheißen nichts Gutes. Von HUBERT HOLZMANN
Zwei Liebhaber des Schattens
Der argentinische Übersetzer, Literaturdozent und Dichter Alberto Manguel veröffentlicht seit mehr als 30 Jahren Bücher, die den Leser selbst zum Thema haben: Von Atlantis bis Utopia ist ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur (1981), Eine Geschichte des Lesens (1998), Im Spiegelreich (1999), Tagebuch eines Lesers (2005), Die Bibliothek bei Nacht (2007). Alberto Manguel ist zeit seines Lebens ein Suchender – in Bibliotheken, Archiven, Büchersammlungen. In seinem neuesten Romanband Zwei Liebhaber des Schattens wird solch ein verlorener, phantastischer Archivfund einer vergessenen Bibliothek Kompositionsanlass für den ersten der beiden Kurzromane Ein allzu penibler Liebhaber.

In dieser dem Umfang und Konzept nach eher eine Novelle zu nennende Geschichte – Manguel bezeichnet es als »Pasticcio«, einem Gemeinschaftswerk – trägt der »Archivar« Manguel doch seine Geschichte aus Poitiers, das sich anders als andere französische Städte »peu à peu offenbart, Detail um Detail, ohne dem Besucher je wirklich zu gestatten, es in seiner Gänze zu erfassen«, aus verschiedensten Quellen zusammen. Und damit ist auch bereits der archimedische Punkt der Geschichte, die sich auf einige durchaus realistisch aufzustöbernde Texte gründet, erfasst. Denn die Suche nach dem Detail bildet den Kern der Handlung.

Doch zunächst stellt sich die Frage, ob nicht der Argentinier und Wahlfranzose aus der Sicht eines Stadtschreibers Alberto Manguel erzählt? Vielleicht. Jedenfalls gibt er seiner Liebesgeschichte einen quasi wissenschaftlichen Anstrich, stattet die Begebenheit mit einem »penibel« literaturwissenschaftlichen Vortext aus. Die Hinführung zum eigentlichen Gegenstand ist eine Vermessung der historischen und lokalen Umgebung, sie macht den Eindruck von Wissenschaftlichkeit, ist beinahe lehrreich. Es gibt also für eine schulmäßige Novelle den perfekten Rahmen. Manguel umkreist den Gegenstand, erfasst sein Umfeld, zitiert Zeitzeugen, blickt in Kommentare zum Tagebuch des Helden. Und erst später beginnt er, das Leben des Anatole Vasanpeine nachzuerzählen. Nicht immer ganz ohne Fiktion – wie er selbst betont.

»Der Liebhaber als Held«

Anatole Vasanpeine lebt am Rande der Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Bademeister und Aufseher einer der Badeanstalten und haust allein in seinem Labor. Die Badegäste interessieren ihn allem Anschein nicht. Er nimmt sie nicht einmal wahr. Jedenfalls nicht als Person. Denn er bemerkt nur die winzigen Details, etwa die Hände beim Lösen des Billets. Wie ein Anatom nimmt er einzelne Segmente des Körpers wahr. Niemals das Ganze.

Er treibt seine Suche nach diesen Teilen so weit, dass er beginnt, durch Ritzen und Spalten der Umkleidekabinen zu schauen. Vasanpeine entlarvt sich als Voyeur. Die Kamera als distanzierendes Auge darf nicht fehlen. Sie hält für ihn einen Bestand an Einzelheiten fest: einzelne Augen, die Lippen, ein Kinn, einen Finger, verschiedene Hautpartien und auch schon mal ein delikateres Körperteil. Vergangene Bilder von Badeanstalten entstehen vor unseren Augen. Etwa das »Porträt der Gabrielle d’Estrées und der Duchesse de Villars« aus der Schule von Fontainebleau aus dem 16. Jahrhundert: Der berühmte Fingerzeig auf die Brustwarze. Hier als vorausgedeutete Schwangerschaft. Bei Vasanpeine ist es keine Deutung. Vielmehr eine schrittweise Bestandsaufnahme und eine Suche nach einzelnen Puzzleteilen, ein Stückwerk.

Den Menschen als existierendes Ganzes erkennt Vasanpeine zum ersten Mal, als er vom Pfeil Amors getroffen wird. Völlig unvorbereitet. Außerhalb seiner Badestube. An dieser Stelle schaltet sich der Autor ein. Bemerkt die Unvollständigkeit der historischen Dokumentation, kündigt intuitive Ausgestaltung an. Extrem »penibel« nicht nur der Liebhaber, auch der Erzähler. Authentizität als Spiegel der literarischen Fiktion. Vasanpeine sieht erstmals die »kleine rundliche, schlurfende Gestalt« einer Frau, kugelförmig – Manguel äußert Mythologieverdacht.

Sein Held blickt diesmal nicht durch die Linse seiner Kamera, sondern durch die Glasscheibe eines Cafés, in dem er sitzt. Ein weiteres Mal also auch hier der trennende Abstand. Kein direktes Greifen, Begreifen möglich. Er springt auf, verfolgt die Gestalt durch das Gassengewirr, den Irrgarten der Stadt. Schafft es bis zu ihrer Wohnung. Der Held ein Stalker.

Manguel distanziert mit einem Verweis auf klassisch lateinische Quellen – »als fons et origo der Dichter-Inspiration«. Vasanpeine erklettert eine Mauer und fotografiert die Gestalt, als diese sich entkleidet. Danach: ein Flash. Schockstarre. Und Reinigung durch das Feuer – wie bei Canetti. Oder gilt vielleicht doch Platens Tristan-Vers: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen/ Ist dem Tode schon anheimgegeben«. Ob Vasanpeine in seinem Foto allerdings die Schönheit auffangen konnte, wird hier nicht verraten.

Dauerlauf durch die Strafbezirke

Zu einem Dauer- und Irrlauf durch verschiedene Stadtbezirke wird auch Manguels zweiter Kurzroman Die Rückkehr. Der Argentinier parodiert hier Dantes Commedia, die Höllenfahrt. Der alte Antiquar Néstor Andrés Fabris kehrt nach langen Jahren seines römischen Exils nach Hause zurück, in sein südamerikanisches Heimatland, das sich durch Militärdiktatur und Zwangsregime vollständig verändert hat. Er will zur Hochzeit seines Patenkindes reisen.

Doch die Reise ist eine Rückkehr ins Reich der Schatten. Als Fabris den Boden seines Landes betritt, noch am Flughafengelände, erlebt er die erste unangenehme Begegnung mit einer Toilettenfrau. Auch die Taxifahrt wird merkwürdig. Führt nur scheinbar ans gewünschte Ziel. Es ereignen sich einige Zufälle, Wechselfälle, kurze Spiegelungen der Vergangenheit in Fabris´ Wirklichkeit. Er trifft einen alten Freund, seine längst verschollene Freundin Marta. Doch sie entschwinden ihm wieder. »Tempus fugit!«

Er geht. Wie in einer Geisterstadt. »Der schmutzige Gang kam ihm unglaublich lang und verwaist vor. Staub und Dreck lagen in dichten Flocken auf den Türschwellen der Läden, und die Schaufenster waren von einer trüben Schicht bedeckt. Die Neonröhren an der niedrigen Decke flackerten unangenehm und verliehen der Passage während der Lichtintervalle etwas Höhlenartiges.« Fabris´ Weg führt hinüber in ein anderes Reich: Er sieht einen »riesigen Bus mit roten und gelben Streifen… Die Tür öffnete sich zischend, und eine tiefe, modulierte Stimme fragte ihn: `Wollen Sie zusteigen?´«

Am Lenker sitzt Fabris´ früherer Professor Grossman. Nun in der Rolle des Jenseitsführers, der den ehemaligen Schüler ins Reich der Verstorbenen führt: wie einen Neuankömmling. Die Rundfahrt führt vorbei an den Folterknechten der Diktatur, an den Gewinnern, an den Opfern. Er führt ihn auch zu seiner ehemaligen Geliebten Marta. Ein Zurück gibt es für ihn nicht mehr: Denn zurückgewiesen hat er das rettende »Sträußlein«, den öffnenden Schlüssel, der Dantes Held den Weg noch bereitet. Eine düstere Lektüre.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Alberto Manguel: Zwei Liebhaber des Schattens
Übersetzt von Gottwalt Pankow und Lisa Grüneisen
Frankfurt/M.: S. Fischer 2013
160 Seiten. 18,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Katholische Putzfrau gesucht

Nächster Artikel

Gottes chaotischer Garten

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zwischen Humor und Weltpolitik

Roman | Jakob Augstein: Die Farbe des Feuers

»Ich habe immer schon geglaubt, dass die Vorstellung, dass wir Herr dessen sind, was wir tun, eine notwendige Vorstellung und ein Irrtum ist. Wir müssen das glauben, sonst bricht alles zusammen. Aber ich glaube, das ist Quark«, bekannte kürzlich Jakob Augstein. Von PETER MOHR

Schicksale, die sich kreuzen

Roman | Merle Kröger: Havarie Nachdem Merle Kröger mit ihrem letzten Roman ›Grenzfall‹ (2012) einen Politthriller vorgelegt hat, dessen Schauplätze sich vor allem in Europas Osten befanden, nimmt sie ihre Leser nun, in ›Havarie‹, mit auf das Mittelmeer. In der kurzen Zeit von knapp 48 Stunden begegnen sich dort vier Schiffe: ein Luxusliner, dessen Passagieren es an nichts fehlt, ein Schlauchboot, dessen Insassen von einer besseren Zukunft in Europa träumen, ein irischer Frachter und ein Schiff der spanischen Seenotrettung aus Cartagena. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein Bruderzwist im hohen Norden

Roman | Jo Nesbø: Der König

Mit Der König knüpft Norwegens Bestsellerautor Jo Nesbø an seinen Roman Ihr Königreich an, der seine Leserinnen und Leser vor 4 Jahren mitnahm in die abgeschiedene Welt von Carl und Roy Opgard im Südosten Norwegens. Im Unterschied zu Nesbøs gewaltstrotzender Harry-Hole-Reihe, die es inzwischen auf dreizehn Bände gebracht hat, erzählte er darin mit deutlichen Anspielungen auf die alttestamentarische Kain-und-Abel-Geschichte von zwei höchst unterschiedlichen Brüdern. Carl, der Leichtlebigere der beiden, hat die letzten 15 Jahre fern von Norwegen verbracht und kommt mit großen Plänen zurück: Ein Spa-Hotel soll seinen Heimatort aufwerten und ihn und die junge Frau, die er mitgebracht hat, reich machen. Roy, der in Os geblieben ist, das elterliche Anwesen verwaltet hat und eine Tankstelle betreibt, handelt weitaus bodenständiger als sein jüngerer Bruder, der noch jedes seiner bisherigen Projekte in den Sand gesetzt hat. Und doch kommen die beiden nicht voneinander los. Eine tragische Vergangenheit mit mehreren bis in die Gegenwart ungeklärten Todesfällen schweißt sie aneinander. Und macht ihre Beziehung auch nicht einfacher, wenn es nun darum geht, wer von den beiden Brüdern der wahre Nachkomme ihres geschäftstüchtigen Vaters wird. Eine Rezension von DIETMAR JACOBSEN

Er war einmal ein Asylsuchender in Deutschland: Literatur als Debattenbeitrag

Roman | Abbas Khider: Ohrfeige Es gibt Romane, die erscheinen exakt zur richtigen Zeit, um Diskussionen zu befeuern: Ohrfeige von Abbas Khider ist so einer. Es geht darin um einen jungen Mann aus dem Irak, der in Europa studieren und sich medizinisch behandeln lassen möchte. In Deutschland erwarten ihn allerdings nur unüberwindbare bürokratische Hürden und Fremdfeindlichkeit. Der Roman kann als Debattenbeitrag zur sogenannten Flüchtlingsfrage gelesen – und als literarische Ohrfeige für den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland. Von VALERIE HERBERG

Fremd bin ich eingezogen

Roman | Leonhard F. Seidl: Mutterkorn Der Nürnberger Autor Leonhard F. Seidl bezeichnet seinen Debütroman Mutterkorn als »Geschichte einer Befreiung«. Eine Bestandsaufnahme von HUBERT HOLZMANN