Ungleiche Freunde

Roman | Torsten Schulz: Nilowsky

Torsten Schulz’ neuer Roman Nilowsky portraitiert Berlin und schwierige Beziehungen seiner Bewohner. Gelesen von PETER MOHR
Torsten Schulz: Nilowsky
»Ich hatte immer Sehnsucht nach einem großen Bruder. Mit Nilowsky habe ich ihn mir erschaffen«, klärte Autor Torsten Schulz über den Protagonisten seines zweiten Romans auf. 2004 hatte der Potsdamer Professor für Dramaturgie mit Boxhagener Platz ein beachtliches und später von Matti Geschonneck erfolgreich verfilmtes Romandebüt vorgelegt. Wie in seinem Erstling ist auch nun die Handlung im Berliner Osten angesiedelt.

Der Ich-Erzähler Markus Bäcker ist vierzehn Jahre alt und gerade mit seinen Eltern an den Stadtrand gezogen, in ein schäbiges Umfeld, in Riechweite eines Chemiewerks und unmittelbar an einer Bahnlinie gelegen. Ausgerechnet in dieser ihm zunächst verhassten Gegend lernt er 1976 die für seine Jugend prägende Figur kennen – den vier Jahre älteren Reiner Nilowsky, Sohn eines zwielichtigen Kneipenwirtes des Viertels.

Nilowsky ist ein Typ, vor dem alle wohlmeinenden Eltern vermutlich ihre Kinder eindringlich warnen: ein autoritärer Leithammel mit kruder Weltsicht, primitiv und anarchisch, ein verträumter Spinner und gnadenloser Aufschneider – mal liebenswert, mal cholerisch. Die Beziehung zwischen den ungleichen Freunden ist äußerst schwierig, erinnert ein wenig an ein autoritäres Herr-und-Knecht-Verhältnis. Nilowsky treibt mit dem jüngeren Markus allerlei Schabernack. Als Mutprobe muss der Jüngere im Winter die Bahnschienen lecken, bei den herrschenden Minusgraden bleibt die Zunge kleben, Markus bekommt es mit der Angst zu tun. Panik breitet sich in ihm aus, er hört schon den Lärm des nahenden Zugs, als ihn Nilowsky (wie eklig!!) mit seinem Urin von seinen Todesängsten »erlöst«.

Das Verhältnis zwischen Markus und Nilowsky wird noch komplizierter, weil sie irgendwann beide für das gleiche Mädchen schwärmen – für die geheimnisvoll-naiv gezeichnete Carola, die sich vorgenommen hat, nicht älter als dreizehn aussehen zu wollen.

Der 54-jährige Torsten Schulz hat wie schon in seinem Debüt ein feines Händchen für skurrile Figuren bewiesen. In einem Handlungsschlenker begegnen wir einer Gruppe älterer Frauen aus dem Viertel, die sich mit Afrikanern vergnügen und sich auf fragwürdige Voodoo-Zauberei zur Steigerung des »Liebesdurstes« einlassen. Auch die Episode um die Beerdigung von Nilowskys brutalem Vater entbehrt nicht einer gewissen Komik. Nilowsky lässt Musik vom Plattenspieler laufen, die der Vater gehasst und von der sich seine bereits vor langer Zeit gestorbene Mutter einst dauerberieseln ließ. So wird die Beerdigung noch zum symbolischen Racheakt.

Die pubertären Irrungen und Wirrungen, eine Freundschaft der ganz speziellen Art, ein geheimnisvolles Dreiecksverhältnis, die Akzeptanz einer Autorität außerhalb der Familie und die Rebellion gegen die Erwachsenenwelt sind die zentralen Themen des zweiten Romans von Torsten Schulz, der ohne jede Ostalgie einen scharfen Blick auf das kleinbürgerlich-proletarische Milieu der DDR wirft.

»Ich fühlte mich geborgen in seinen Armen und musste noch heftiger heulen, so heftig, dass mein Körper bebte. Nilowsky drückte mich fest an sich und sagte: ,Ist gesund, wenn man heult, richtig heult.« Es sind gerade solch simpel klingende Dialoge, die diesem Roman ein Höchstmaß an Authentizität und darüber hinaus auch eine singuläre Melodie verleihen. Mal herzzerreißend komisch, mal tieftraurig – ein Roman, der wunderbar zwischen Komik und Tragik changiert.

| PETER MOHR

Titelangaben
Torsten Schulz: Nilowsky
Stuttgart: Klett Cotta Verlag 2013
285 Seiten. 19,95 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Time Was Right: An Interview With Tone of Arc.

Nächster Artikel

Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Sich selbst neu erfinden

Roman | Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Die Mehrdeutigkeit von schillernden Inszenierungen und unsteten Lebensentwürfen scheint schon im Titel durch. Doch mehr noch: mit Ich an meiner Seite stellt die österreichische Autorin Birgit Birnbacher das allgegenwärtige Streben nach Selbstoptimierung ironisch infrage. Denn nicht nur Facebook und Instagram verleiten zur künstlichen Überhöhung der eigenen Person. Birnbachers soziologisch angehauchte Milieustudie begibt sich in die Welt der Kleinkriminellen und ihrer Wiedereingliederung. Von INGEBORG JAISER

Warten auf das Ende – Buchmesse-Schwerpunkt Spanien

Roman | Antonio Munoz Molina: Tage ohne Cecilia

Antonio Munoz Molina gehört zu den herausragenden zeitgenössischen spanischen Schriftstellern. Der 66-jährige Autor wird am 18. Oktober als Ehrengast Redner bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sein. Munoz Molina hat viele Jahre das Cervantes-Institut in New York geleitet und ist mit den meisten wichtigen Literaturpreisen Spaniens ausgezeichnet worden – bereits 1991 mit dem Premio planeta (den wichtigsten spanischen Literaturpreis) für den Roman Der polnische Reiter. Von PETER MOHR

»Wie wollen wir leben?«

Interview | Im Gespräch: Autor Anselm Neft Vor 15 Jahren war Anselm Neft zwei Jahre Mitglied der Mittelalterband Schelmish, die sich Ende 2012 auflöste. Mittlerweile ist er Schriftsteller und Mitherausgeber von ›EXOT. Zeitschrift für komische Literatur‹. Nun ist im August sein Roman ›Helden in Schnabelschuhen‹ erschienen, der in der Mittelalterszene spielt. MARTIN SPIESS, der selbst von 2010 bis 2014 mit seinem Comedy-Duo ›Das Niveau‹ auf Mittelalterfestivals unterwegs war, hat ihn zum Gespräch getroffen.

Eine Frage der Ehre

Roman | Loraine Peck: Der zweite Sohn

Die Novaks sind 1980 aus Kroatien nach Australien ausgewandert. In der zu Sydney gehörenden westlichen Vorstadt Liverpool City kontrollieren sie inzwischen den Handel mit Partydrogen und waschen Geld aus Erpressung und Raubüberfällen über die zehn in ihrem Besitz befindlichen und von Landsleuten geführten Fischgeschäfte. Als eines Morgens Ivan, der ältere der beiden Söhne von Clanchef Milan, vor seinem Haus erschossen wird, erwartet die Familie von Johnny, dem Jüngeren, dass er den Bruder rächt. Aber Johnny, der in den Augen seines Vaters immer der schwächere Zweitgeborene war, zweifelt daran, dass hinter dem Mord die serbische Konkurrenz steckt, die die Novaks aus ihren Geschäften drängen will. Und da er sich ohnehin Sorgen um seine Frau Amy und Sohn Sasha macht, würde er am liebsten aus dem Familiengeschäft aussteigen. Doch um einen letzten Job kommt er nicht herum. Von DIETMAR JACOBSEN

Pilgern für Fortgeschrittene

Roman | Stephan Thome: Fliehkräfte Nur zwei Romane hat Stephan Thome bislang verfasst – und beide landeten umgehend auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis: 2009 sein fulminantes Debüt Grenzgang und wenige Jahre später seine weit verzweigten Fliehkräfte. Von INGEBORG JAISER