Heinz Strunks neuer Roman taucht tief in die Abgründe und Absurditäten einer Heilanstalt ab, in der »jede Wunderlich-, Bockig-, Schrulligkeit toleriert« wird und eigene Gesetzmäßigkeiten gelten. Ob thematische Anleihen und ein geschickt gewähltes Erscheinungsdatum die wagemutige Titelgebung Zauberberg 2 legitimieren, hängt vom Blickwinkel ab. Von INGEBORG JAISER
Das muss erst mal gelingen: auf den Tag genau 100 Jahre nach dem Erscheinen eines epochalen Jahrhundertromans eine aktualisierte Version zu lancieren: Zauberberg 2. Welch Anmaßung! Gilt hier nicht der Titelschutz? Was sagen der Börsenverein, die Thomas-Mann-Gesellschaft, die literarischen Gralshüter dazu? Ausgerechnet Heinz Strunk besitzt die Chuzpe, mit argloser Unerschrockenheit ein Remake auf den Markt zu bringen, das den Klassiker in keiner Weise kopiert, ihm eher eine zeitgenössische Interpretation hinzufügt. Doch die hat es in sich.
Plattes Land statt Hochgebirge
Vorhang auf! Auf den ersten Blick driften die Schauplätze geographisch weit auseinander. Während Thomas Manns jugendlicher Protagonist Hans Castorp auf seiner langen Reise vom hanseatischen Hamburg hoch in die Schweizer Alpen gefühlt mehrere Zeit- und Klimazonen durchläuft, schleppt sich Heinz Strunks ermatteter Anti-Held Jonas Heidbrink gerade mal bis in die mecklenburgische Tiefebene am Stettiner Haff, in eine sumpfige, matschige, trostlose Einöde. Dank seines florierenden Startup-Unternehmens hat Heidbrink schon früh finanziell ausgesorgt und kann sich nun mit einem gewissen Ennui seinen Malaisen widmen. Die Tuberkulose als Volkskrankheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird heutzutage abgelöst von Depressionen, Angstzuständen, Belastungsstörungen. Und das noble Sanatorium von einst mutiert zu einer psychosomatischen Fachklinik, zunehmend abgetakelt und marode. Dabei ist Jonas Heidbrink doch Selbstzahler.
Es ist, als ob bereits mit Betreten des Geländes eine Falle zuschnappen würde. Wer selbst einmal eine Reha-Maßnahme durchlaufen hat, wird mit Schaudern die trostlosen Szenarien eines Klinikalltags wiedererkennen. Schrullige Mitpatienten, tüttelige Therapeuten und selbstgefällige ärztliche Autoritäten »mit einem Panzer unerschütterlichen Selbstbewusstseins. Streng wie Sauerbruch, genial wie Semmelweis«. Heinz Strunks schonungslose Beobachtungsgabe, sein Hang zu enthemmten Wortspielereien zeugt doch von tiefer Menschenkenntnis.
Ungestüm schlachtet er seine Charakter- und Milieustudien aus. Schwester Irene »steht so fest im Leben, dass sie nicht einmal mit einem Räumfahrzeug zur Seite geschaufelt werden könnte. Bestimmt trägt sie Strumpfhosen aus Stahl.« Die Mitpatienten hingegen schlüpfen in die »angesagte Hospizkombi« aus »Schlappen plus amorphes Wabbelquaddelzeug«. Da gleicht der Auftritt des Tischnachbarn Zeissner (einem gefühlten Wiedergänger Settembrinis) einer sozialen Wohltat: »beruflich granitharter Hund, privat Salonlöwe, Connaisseur, Bonvivant.« Er ist es auch, der mit seinen philosophischen Exkursen und »Kalenderweisheiten für die gehobenen Stände« am ehesten auf das Mann´sche Original verweist.
Stabile Vitalwerte
Ist unsere Zeit reif für ein morbides Setting angesichts einer von Krisen erschütterten Welt? Krankheit als Symbol? Das Sanatorium, die Kurklinik, das Wellnesshotel als willkommene Flucht in ein Paralleluniversum? »Ich bin eine einzige Abwesenheitsnotiz«, konstatiert Heidbrink betroffen. Bereits Timon Karl Kaleyta hat das virulente Thema schon vor einigen Monaten in seinem vielbeachteten Roman Heilung aufgegriffen. Doch Heinz Strunk geht noch einen Schritt weiter und schreckt vor keinem ekelerregenden Detail zurück. Er erspart uns nichts: weder körperliche noch psychische Deformationen, weder verstopfte Abflüsse noch Cold Turkey oder »vollgewichste Taschentücher, verkrustete Waschlappen […] pissedurchtränkte Unterwäsche, ranzige Strümpfe, Schweißränder.« Als Leser sollte man schon einen Sinn für ungustiöse Schilderungen haben.
Wie bereits Hans Castorp verweilt auch Jonas Heidbrink deutlich länger als geplant in klinischer Auszeit, sediert durch medizinische Fehldiagnosen und die Eintönigkeit des therapeutischen Alltags. Wurde vor 100 Jahren schnell mal eine Lungenaffektion herbeifabuliert, beunruhigt heutzutage ein Verdacht auf Fettleber, maligne Raumforderung, Hautkrebs. Nur die regelmäßig eingestreuten Vitalwerte Heidbrinks liegen deutlich im Normbereich. Der letzte kranke Patient ist die Klinik selbst, heruntergekommen und verwaist. Im Internet wird der Status von »vorübergehend« auf »dauerhaft geschlossen« gesetzt. Zerfall und Auflösung liegen in der Luft. Doch anders als im Original verweist der Showdown von Zauberberg 2 samt Abgang des Protagonisten nicht auf einen kommenden Krieg. Hoffentlich.
Titelangaben
Heinz Strunk: Zauberberg 2
Hamburg: Rowohlt 2024
288 Seiten. 25 Euro
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