Eine wunderbare literarische Entdeckung

Roman | Jack Kerouac: Mein Bruder, die See

Jack Kerouacs Mein Bruder, die See erzählt von der Flucht aus der unsicheren Alltagswelt New Yorks ans rettende Deck eines Handelsschiffes. Von HUBERT HOLZMANN

Die Buchedition: Es ist weltweit die Erstausgabe von Jack Kerouacs teils autobiografisch beeinflussten frühen Erzählung Mein Bruder, die See aus dem Jahr 1943. Die Edition des Hamburger Verlags in der hochwertigen Reihe Edel:Momenti stellt den 8 Kapiteln der Erzählung großformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen zur Seite.

Die Story: Der Vollmatrose Wesley Martin haut in New York die restlichen Cent seiner letzten Heuer auf den Kopf und überredet den zufällig über den Weg gelaufenen Universitätsdozenten Bill Everhart mit ihm nach Boston zu trampen um dort gemeinsam in See zu stechen. Mit im Spiel sind Frauen und viel Alkohol. Bill muss sich von seiner Familie verabschieden. Wesley lässt seine Frau erneut in Stich.

Am Ende des Horizonts

Der Autor: Der US-Amerikanischer Jack Kerouac (1922-1969) hat franko-kanadische Wurzeln und gehört mit Allen Ginsberg und William S. Burroughs zu den Begründern der Beatgeneration. Kerouac studierte für kurze Zeit in New York, heuerte während des Zweiten Weltkriegs auf mehreren Schiffen an und reiste nach dem Krieg durch die Staaten.

Die Details: Tagebucheinträge von Kerouac belegen den biografischen Hintergrund der Erzählung. Wesley, der Frauenheld und Abenteurer und Bill, Schöngeist und Einzelgänger, sind zwei Seiten von Jack Kerouac. Im Text versucht er sie symbolisch wie zwei Enden eines Seils miteinander zu verknüpfen«: »in ein paar Tagen wieder auf einem Schiff, dazu das einschläfernde Dröhnen der Schraube, die sich unter ihnen durchs Wasser wühlte, das wohltuende Auf und Ab des Schiffes… Sich die See zu Eigen machen, über sie zu wachen, ja, die Seele in sie zu versenken, sie zu akzeptieren und zu lieben.

Die Stadt: Das Treiben New Yorks dagegen eine misstönende, von der Hand eines übermütigen, geschäftigen Dämons angeschlagene Saite. Wesley und Bill brechen aus dieser scheinbaren Sicherheit aus, suchen die Ordnung der kleinen Welt auf See, den geschützten Rückzug unter Deck, unter Brüdern. Sie sind zwei bad boys, die festen Beziehungen entrinnen wollen. Wesley besucht nicht zufällig im Kino eine Vorstellung von Citizen Kane. Auch er ist unfähig für Liebe und Freundschaft. Er flieht von Zuhause, heiratet ein junges Mädchen aus reichem Hause. Verlässt auch sie. Die Beziehungen an Deck sind geordnet, geregelt, überschaubar.

Die Bilder: Das Konzept des Bandes ist eine Art Fotoausstellung. Die Bilder erzählen von den 40er-Jahren in New York, dem Treiben am Broadway, in Harlem, Manhattan. Das wilde, unbeherrschbare, bunte New York ist hier noch nicht die hochtechnisierte von Highways durchzogene Stadt. Es sind die Hinterhöfe, die Blicke in Seitenstraßen, das Leben der Nacht, Straßenmärkte, Leuchtreklame, Schilder. Die Einsamkeit. Dazwischen immer schon ein Blick aufs Meer, den Hafen, die Schiffe. Der Weg nach Boston entlang der Route 40. Tramper. Tankstellen. Lastwagen. Dann Matrosen. In einer Kneipe, bei den Arbeiten an Deck, in der Messe, Kombüse, in der Koje. Lesend. Beim Kartenspiel. Grandios die großformatigen Repros.

Die Übersetzung: Michael Mundhenks Übersetzung behält den Gestus des Abenteuers Wesley: Die Zigarre füllte seinen Mund mit dem bitteren Geschmack, nach dem er sich gesehnt hatte; zwischen den Zähnen fühlte sie sich groß und stattlich an. Seine Sprache pulsiert im Rhythmus des heißen Asphalts. Um drei Uhr standen sie in der Nähe des Bronx Park am Straßenrand, wo ihnen die vorbeirauschenden Autos heiße Staubwolken ins Gesicht wirbelten. Bill saß auf seinem Koffer, während Wesley gelassen dastand, mit geschultem Blick Wagen auswählte und den Daumen heraushielt.

Fazit: So zufällig wie Wesley am Riverside Drive auftaucht, so zufällig blendet Kerouac am Ende des Bandes seinen Helden wieder aus: Er schlurft er davon und hörte nichts mehr. Er ging zum Bug und stemmte sich in den starken, von Norden blasenden Wind, dessen scharfe Kälte ihm ins Gesicht biss und der seinen Schal wie einen Wimpel hinter ihm flattern ließ. – Mein Bruder, die See ein gelungener Auftakt zur Beatgeneration.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Jack Kerouac: Mein Bruder, die See
Aus dem Englischen von Michael Mundhenk
Mit Fotografien von Henri Cartier-Bresson, Andreas Feininger, Cornell Capa, Weegee, Charles E. Steinheimer u.a.
Hamburg: Edel 2011
224 Seiten. 39,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Survival of the Cool

Nächster Artikel

Hiob begegnet Ödipus oder Bucky macht sich zum Sündenbock

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Raus aus dem Stedtl

Debüt | Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse Mit seinem witzigen Debüt Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse leistet der Schweizer Thomas Meyer nicht nur einen Beitrag zur Verständigung zwischen den Religionen. Er gibt vor allem ein kurioses Beispiel für die Anziehungskraft zwischen Männern und Frauen. Meyer erzählt hier die Geschichte eines jungen orthodoxen Juden, der sich trotz mütterlicher Überwachung auf der Suche nach seiner eigenen Identität macht. Und wie immer bewahrheitet sich die Weisheit: Der Weg ist das Ziel. Von HUBERT HOLZMANN

Der Traum von der Golden Gate Bridge

Jugendbuch | Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty Die Kulturrevolution in China endetete offiziell im Jahr 1969. Die Säuberungsaktionen gegen Andersdenkende, der Tod von Hunderttausenden, physische und psychische Misshandlungen währten aber bis zum Tod Maos. Was das tatsächlich für eine Familie bedeutet, erfährt man aus der Sicht der neunjährigen Ling. Von ANDREA WANNER

Voll die Sozialapokalypse

Roman | Simone Lappert: Der Sprung

Der Sprung mischt eine scheinbar ehrenwerte Kleinstadt gehörig auf und entlarvt brüchige Lebensentwürfe. Mit ihrem zweiten Roman ist der Zürcher Autorin Simone Lappert ein großer Coup gelungen: eine schillernde Milieustudie, ein moderner Episodenroman in bester Short-Cuts-Manier und obendrein eine Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Von INGEBORG JAISER

Im Labyrinth aus alten Schatten

Krimi | Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck Deutscher Krimipreis 2016 Friedrich Anis Kriminalromane sind in gewisser Weise einzigartig. Ob ihre Helden Tabor Süden, Polonius Fischer oder Jonas Vogel heißen – stets werfen sie sich mit ihrer ganzen Person in den aufzuklärenden Fall. Machen ein fremdes Dasein zum eigenen, um dessen Verschwiegenheiten und Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Selbst führen diese Männer ein eremitisches, einsames Leben, auch wenn sie einmal verheiratet waren und Kinder haben. Das aber stärkt noch ihrer aller ausgeprägte Fähigkeit, sich in Menschen zu versetzen, die sich vor der Welt und ihren

Stille Nacht an der Moldau

Roman | Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag

Was macht das Christkind an Heiligabend? Wohin treiben all die nächtlichen Gestrandeten in einer Großstadt? Worin verwandeln sich die Geister von Kafka, Hašek und Hrabal? Jaroslav Rudiš´ Weihnachten in Prag ist eine stimmungsvolle Liebeserklärung an die Moldaumetropole und ein modernes Märchen, das anrührt, ohne von falscher Rührseligkeit getrübt zu werden. Von INGEBORG JAISER