Schlaflos in Venedig

Roman | Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Die Sehnsucht nach Stille und Rückzug, nach klösterlicher Klausur, gehört wohl zu allen Schriftstellerfantasien und begleitet Leila Slimani bis zum Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident. Der Duft der Blumen bei Nacht beschwört die Kraft der Poesie und der Literatur, entführt in entschwundene Gefilde und doppelte Identitäten. Von INGEBORG JAISER

Das Buchcover zeigt ein Porträtfoto der AutorinDer rasante literarische Aufstieg Leïla Slimanis hat nicht nur in Frankreich für Furore gesorgt.
Nach dem Erscheinen des ersten Teils einer als Romantrilogie geplanten Familiengeschichte (Das Land der anderen, 2021) erwarten die Leser bereits mit Spannung weitere Bände. Doch Leila Slimani zieht als Joker zunächst ein retardierendes Moment.

Der Duft der Blumen bei Nacht changiert zwischen Essay und Roman, Fakten und Fiktion, klarer Analyse und träumerischen Sequenzen. Und erinnert daran, welch mühsamer Akt dem künstlerischen Schaffensprozess zugrunde liegen kann.

Eine Nacht im Museum

»Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen,« eröffnet Slimani ihr neuestes Buch. Und: »Schreiben ist Disziplin. Es ist Verzicht auf Glück, auf die alltäglichen Freuden.« Um schreiben zu können, muss man sich zurückziehen, von Freunden fernhalten, jede Ablenkung vermeiden. Kein Kinobesuch, kein Spaziergang und keine Einladung zum Abendessen. Oder, wie es Hemingway einmal treffend formuliert hat: »Die schlimmsten Feinde eines Schriftstellers sind das Telefon und Besucher.« Schreiben macht einsam.

Als Kehrseite von Rückzug und sozialer Abschottung vermag idealerweise ein Höhenflug eintreten, ein trancehafter Flow, der einen kreativen Schub entfachen kann. Doch dieser Zustand lässt sich nicht beliebig forcieren. Allzu oft bleiben die erhabenen Momente aus und – wie die Autorin klagt – »meine Figuren reden nicht mit mir«. Mitten in einer dieser Schreibblockaden erhält Leila Slimani von ihrer Lektorin das verlockende Angebot, im Rahmen einer neuen Projektreihe eine Nacht alleine in der Punta della Dogana in Venedig zuzubringen. Ein außergewöhnliches Stimulans? Ein überraschender Kick? Ein ungeahnter Katalysator zur Freisetzung kreativer Kräfte? Oder einfach nur eine willkommene Ablenkung von den üblichen Schreibroutinen?

Begegnung zweier Kulturen

Wer die Punta della Dogana kennt, weiß die Verzauberung des Ortes zu schätzen. Einst im 17. Jahrhundert als Zollstation errichtet und 2009 auf spektakuläre Weise vom Architekten Tadao Ando zum Kunstmuseum umgebaut, ragt der Gebäudekomplex auf einer spitzen Halbinsel in den Zusammenfluss zweier großer Kanäle hinein. Hier liegt der »Begegnungspunkt zweier Kulturen: der abendländischen und der arabisch-byzantinischen Welt.« Eine Verschmelzung von früherer amtlicher Kontrolle und heutiger künstlerischer Transzendenz, zugleich »Eingangs- und Ausgangstor, Grenze und Übergang.«

Welch herausfordernde Einladung für die 1981 in Marokko geborene, einer frankofonen Familie entstammenden Schriftstellerin, die als Jugendliche zum Studium nach Paris gegangen ist, aber stets das Gefühl der Fremdheit, der Andersartigkeit nicht ablegen konnte. Hier im Bauch des mächtigen Gebäudes, versunken in vollkommener nächtlicher Ruhe und Abgeschiedenheit, kann sich Slimani ihrem fließenden Erinnerungs- und Bewusstseinsstrom hingeben.  Dem vergangenen Duft des Jasmins neben ihrem Elternhaus nachspüren. Momente der Kindheit heraufbeschwören. Dem schmerzlichen Verlust des Vaters ein Zeichen setzen. Ihre eigene Identität neu ausloten. Aus ihrem reichen Erkenntnisschatz an Film-, Literatur- und Kunsterlebnissen schöpfen und Querverweisen folgen.

Poetische Träume

Ganze Generationen von Schriftstellern sind dem Zauber Venedigs erlegen, ihrer Topografie und berauschenden Ausstrahlung. Doch Leila Slimani mag nicht den abgegriffenen Deutungen der »Serenissima« und »Lagunenstadt« folgen. Am Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident gelegen, ohne eigenes Land und Boden, erscheint diese Stadt eher wie ein Ankerpunkt in der Zerrissenheit von Traditionen, Geschichten, Identitäten. Slimani nutzt die Magie des Ortes, um sich ihrer eigenen Herkunft und Zugehörigkeit zu versichern, um ein weit verstricktes Netz an kulturellen und künstlerischen Bezügen zu spannen.

Dieses schmale, luftig gesetzte, kaum 160 Seiten umfassende Büchlein mag zwar leicht in der Hand liegen und in einer einzigen Nacht verschlungen werden, doch die Stärke seiner intellektuellen Erkenntnisse und sinnlichen Träume schwingt weiter. Ein poetisches und zugleich sehr aufrichtiges, persönliches Buch, das nicht zuletzt die »Komplexität einer doppelten Identität« offenlegt.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
München: Luchterhand 2022
159 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Leïla Slimani in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Deutsch-deutscher Grenzgänger

Nächster Artikel

Es wird einmal gewesen sein

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der gute Cop sucht nach dem guten Killer

Roman | Scott Thornley: Der gute Killer

Detective Superintendent Iain MacNeice bekommt es in Der gute Killer – dem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman des kanadischen Autors Scott Thornley – mit einem Psychopathen zu tun, der seine Opfer nach dem Vorbild bekannter Gemälde arrangiert. Opfer, mit denen niemand Mitleid hat, weil sich der Täter offenbar Zeitgenossen für seine blutigen Arrangements aussucht, die ihm aufgrund ihres sich gegenüber anderen in der Öffentlichkeit äußernden unsympathischen Charakters aufgefallen sind. Als MacNeice endlich hinter das Geheimnis der verwirrenden Tatorte gekommen ist, beginnt der Mörder ein Spiel mit ihm und seinem Team, in dem er hofft, immer das kleine Stück voraus zu sein, welches ihm seiner letzten tödlichen Choreographie näher bringt. Das könnte fast gelingen, denn der Polizist hat sich zur gleichen Zeit noch um den Fall eines ermordeten Kollegen zu kümmern. Und auch der war alles andere als ein Gutmensch. Von DIETMAR JACOBSEN

Leben vor den Toren des Paradieses

Roman | Laurent Gaudé: Hund 51

Zem Sparak ist Grieche. Aber Griechenland existiert nicht mehr in der Welt von morgen, wie sie der französische Autor Laurent Gaudé in seinem aktuellen Roman Hund 51 vor unseren Augen erstehen lässt. Überhaupt scheinen Länder ausgedient zu haben. Die neue Welt gehört Superkonzernen. Und die haben ihre Einflussgebiete in Zonen eingeteilt. GoldTex heißt der Konzern, für den Zem als Hilfspolizist in Zone 3 der Megastadt Magnapolis arbeitet. Als er in dieser Funktion eines Tages vor einer furchtbar zugerichteten Männerleiche steht, weiß er gleich, dass die Aufklärung dieses Verbrechens nicht in seine Zuständigkeit fällt. Und beginnt trotzdem, zusammen mit Kommissarin Salia Malberg aus Zone 2, das Geheimnis um den Toten zu lüften – ein Vorhaben, das die beiden aufeinander zu und bis an die Grenzen ihrer Loyalität zu denjenigen führt, die in ihrer Welt das Sagen haben. Von DIETMAR JACOBSEN

Schreiben, um nicht umzukommen

Roman | Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

»Man hat ohnehin schon das Problem der Scham und des Schuldgefühls, wenn einem so etwas widerfährt. Überhaupt diese Schwelle zu überwinden, davon zu erzählen. Und dann wird man noch damit konfrontiert, dass einem der Vorwurf der Lüge gemacht wird. Das ist eine sehr heikle Situation. Das fand ich wichtig, darüber zu schreiben«, erklärte die in Potsdam lebende Autorin Antje Ravik Strubel über die gedankliche Vorgeschichte ihres neuen Romans, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 schreibt PETER MOHR

Ich will mein eigener Freund sein

Roman | André Heller: Das Buch vom Süden »Es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach der angstlosesten Form seiner selbst.« Mit diesen Worten hat André Heller kürzlich seinen eigenen Roman Das Buch vom Süden, das soeben im Wiener Zsolnay erschienen ist, beschrieben. Mit nun fast 70 Jahren hat der Wiener Universalkünstler (Chansonnier, Theatermacher, Gartenkünstler, Entertainer und Feuerwerker) nach den Erzählungen Schlamassel (1993) und Wie ich lernte, bei mir selbst zu sein (2008) ein stark autobiografisches Sehnsuchtsbuch vorgelegt, eine pathetische Hymne auf das Unkonventionelle. Gelesen von PETER MOHR

Mörderjagd im Nachkriegs-Wien

Roman | Karl Rittner: Die Toten von Wien

Eigentlich sucht Alexander Baran seit beinahe einem Jahrzehnt nach seiner verschwundenen Schwester Szonja. Da trifft es sich ganz gut, dass der ungarische Adlige, der eigentlich Sandor Baranyi heißt, nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und dort bei der Polizei gelandet ist. Als Kommissär, dessen Abteilung »Verbrechen an Leib und Leben« aufzuklären hat, muss er sich aktuell freilich mit seinem Kollegen Florian Meisel um den Fall einer ermordeten Tänzerin kümmern. Bald kommen weitere Todesfälle hinzu. Und auch für die beiden Polizisten wird es immer gefährlicher. Von DIETMAR JACOBSEN