Ortskunde der Vergangenheit

Konstantin Ferstl: Die blaue Grenze

Seine Verwandtschaft fand noch Trost und Halt zwischen dem stoischen Pragmatismus derber Bäuerlichkeit und dem Segen des Katholizismus. Doch Fidelis Lorentz, der entmutigte Antiheld aus Die blaue Grenze, lässt alle Wurzeln und Verpflichtungen hinter sich und flieht in die Ferne. Der 1983 geborene Autor Konstantin Ferstl vereint in seinem Debütroman auf unnachahmliche Weise Zeitgeschichte, Familienhistorie und der Welten Lauf. Von INGEBORG JAISER

Der Urgroßvater, der Bahnhofsfranzl (»Bücher konnte er nicht lesen, Landkarten schon«), war zwar kurz zur See gefahren, doch später ganz profan im Dorfweiher ertrunken (»Hitzschlag, sagte der Pferdedoktor aus Bruck.«). Der Großvater war nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nie mehr weiter als 100 Kilometer gereist. Und der Vater, der sich als sechster von sieben Brüdern mühsam zu einem Studium emporgedient hatte, beschränkte seine spätere Weltläufigkeit auf Subskriptionsweine aus dem Burgund. Nur Fidelis Lorentz, letzter Spross einer pfälzisch-bayrischen Familiendynastie und Komponist seichter Fernsehfilmmelodien glaubt beharrlich an sein Glück in der Ferne.

Wenn man gegen die Zeit anrennen möchte, dann nur nach Osten

Als seine große Liebe J. ein ernsthaftes Gespräch ankündigt, wittert Fidelis Trennungsabsichten und stürzt sich in die Flucht – ausgerechnet nach Pyeongyang. Durch Mithilfe einer dubiosen Reiseagentur (»vielleicht rangieren falsche Nordkoreareisen längst gleichauf mit dem Erbe nigerianischer Prinzen«), und ausgestattet mit einer eher anachronistischen Ausrüstung: einer Rolleiflex, deren Rollfilm gerade mal 12 Aufnahmen zulässt (»scharf wird`s nicht mehr, aber dann sparst dir wenigstens den Vintage-Deppenfilter am Handy«), und einem altersschwachen Walkman mit nur einer Kassette, den Superhits of the Eighties. Auf der weiten Zugreise gehen ihm zwischendrin noch Telefon und Taschenmesser verlustig, fast sogar die linke Hand. Doch das ist für sich schon eine abstruse Geschichte.

An Skurrilitäten und Absonderlichkeiten mangelt es wirklich nicht in diesem herrlich schrägen Debütroman des im Altmühltal geborenen, sowie in München und in der Hallertau lebenden Konstantin Ferstl, der bislang vor allem als Regisseur und Musiker in Erscheinung getreten ist. Mit lustvoller Abgründigkeit und überschäumender Fabulierlust inszeniert er ein literarisches Rail Movie, das sich irgendwo zwischen Anna Karenina, Mord im Orient Express und James Bond anfühlt. Arrangiert vor einer bizarren Wes-Anderson-Kulisse. Dabei erscheint der Protagonist Fidelis Lorentz so authentisch geerdet und bodenständig kultiviert, dass man ihn am liebsten als Cousin in der eigenen Familie aufnehmen würde.

Schwartenmagen und Kimchi

Denn Familienbande und Freundschaften spielen eine gravierende Rolle in diesem Roman. Während Fidelis in einem eisigen Zugwaggon (es ist Februar!) 10.000 Kilometer gen Osten geruckelt wird, ist die Route gedanklich von alten Weggefährten, Familienschicksalen und Brüdern im Geiste gesäumt. Die Beerdigung von Tante Alwine, unvergessen durch ihre Care-Pakete (»Schwartenmagen, eingemacht für die Ewigkeit, Rationen für einen Atomkrieg oder eine künftige Hungersnot«), ein vergangener Ausflug zum »Luftgeselchten«, einem »durch natürliche Mumifizierung erhaltenen Pfarrer im Mühlviertel«, und ein surreal anmutender Besuch des Mausoleums von Kim Il-Sung rangieren auf einer gemeinsamen Gefühls- und Bewusstseinsschiene.

Als Leser stürzt man fast atemlos und taumelnd durch diesen von Anekdoten, kuriosen Erinnerungen und realer Zeitgeschichte überquellenden Roman. Und wünscht sich am liebsten kein Ende dieser ausufernden Kreuzung zwischen Tour de Force und Sentimental Journey, selbst angesichts der eng bedruckten 400 Seiten, zudem in einer verschwindend kleinen Schrifttype gesetzt.

Handelsreisender der Traurigkeit

Doch die titelgebende blaue Grenze des sogenannten gelben Meeres gerät zum Ziel und auch zum Umkehrpunkt der Story. Irgendwann muss der gebeutelte teutonische Held als »Handelsreisender der Traurigkeit« wieder in seine Heimat zurückkehren. Doch hat er die nicht sowieso schon die ganze Zeit mit sich herumgetragen? Darin liegt die große Qualität dieses Romans: in der Verschmelzung der Orts- und Zeitebenen, der gefühlten Gleichzeitigkeit, der assoziativen Verquickung von Exotik und Provinzgebaren, gleichermaßen trennend wie verbindend.

Denn steckt nicht in der fremdländischen Ferne immer auch das Altbekannte, Vertraute, wenngleich in kurioser Ausformung? Trägt der mächtige Kim-Il-Sung-Platz nicht den »Charme eines Baumarktplatzes in Wiener Neustadt«? Sehen die opulenten koreanischen Wandgemälde nicht so aus, »als hätte Willi Sitte eine Fortbildung bei Bob Ross belegt«? Könnte eine überladene Musikaufführung in Pyeongyang nicht »harmonietechnisch auch ein alpiner Kaminabend mit den Kastelruther Spatzen sein«?

Eisenbahnfreunde, Sehnsuchtsreisende und Stammbaumforscher werden ihre Freude an dieser grandiosen Familiensaga haben, an der von Allegorien und Metaphern überwucherten Odyssee durch Zeit und Raum. Ein wortgewaltiges literarisches Erstlingswerk, das jetzt schon die Hoffnung auf eine Fortsetzung schürt.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Konstantin Ferstl: Die blaue Grenze
Berlin: Rowohlt 2023
395 Seiten. 24 Euro
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