Ein Arbeitsunfall mit Folgen

Roman | Jo Lendle: Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen – so heißt der neue Roman des frisch gekürten Hanser-Verlagschefs und Schriftstellers Jo Lendle, der mit seinen Geschichten zu fesseln versteht, diesmal in die Gestalt eines Zauberers schlüpft, mit allerlei Motiven jongliert, den Drahtseilakt über Kontinente hinweg wagt und sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Manchmal mit doppelbödigen Tricks – findet HUBERT HOLZMANN.

Was wir Liebe nennen von Jo Lendle
Jo Lendle erzählt in seinem aktuellen Roman Was wir Liebe nennen die uralte Geschichte von Verführung und Ehebruch. Seine Hauptfigur ist der Zauberer Lambert, der zu einem Magierkongress nach Montreal in Kanada reist. Bereits während seiner Anreise gibt es erste Turbulenzen: etwa noch im Fahrerhaus eines Milchlasters, in dem Lambert ein Stück mitfährt, dann im Flieger zwischen ihm und einer Stewardess und natürlich während des Flugs über den Atlantik selbst. Denn sein Flieger muss notlanden. Ein größeres Unglück kann glücklicherweise vermieden werden. Nur der Zeitplan des Zauberers gerät durcheinander.

Diese Verrückungen und Zufälle gehen in der neuen Welt weiter. Kaum in Kanada gelandet wird Lambert von einem Pick-up angefahren. Darin sitzt eine Frau. Und das bedeutet Verwicklungen. »Lambert ging zu dem Wagen, griff ins Fenster, um sich die Wahnsinnige zu schnappen, und rief, während er sich mit den Fingern in ihren Locken verfing, ob sie noch bei Trost sei… In seinem Griff gefangen schaute sie ihn an und zum ersten mal sah Lambert ihre Augen… Lambert konnte sich nicht erinnern, schon einmal von solchen Augen angesehen worden zu sein.«

Besser kann ein Intro wohl auch in einem Groschenroman nicht sein. Und dass diese scheinbar so faszinierende Dame außerdem mit Pferden (!) arbeitet – allerdings nicht als Edeldame auf einem englischen Gestüt, sondern als Forscherin mit Urpferden, den so genannten Przewalski-Pferden –, rührt zusätzlich die Herzschmerzromantik an. Aber es kommt noch dicker…

Das »Kaninchen im Hut«

Lamberts Glücksfee, die sich im Verlauf des Romans nicht nur in die »magische Zauberkiste« legt, nennt sich Fe. Hinter diesem Kurznamen verbirgt sich mit vollem Namen »Felicitas Touchburn«. Nomen est omen – fühlt sich Lambert sogleich »berührt«, er beginnt zu »lodern« und brennt bald »lichterloh«. Das Leben des Osnabrücker Magiers Lambert – auch Jo Lendle selbst ist gebürtiger Osnabrücker – wird also wieder befeuert, nachdem seine langjährige Beziehung zu Andrea doch ein wenig an Strahlkraft verloren hat.

Der so berührte, angefahrene/angemachte Lambert wird von Fe dann direkt zum Kongresshotel kutschiert. Dort trifft er auf die Minute genau ein, um seinen Auftritt vor den Magierkollegen abzuhaken. Bei einem kleinen Imbiss danach wird er von seinen Kollegen gefeiert – und von Fe neugierig befragt. Es folgen weitere stürmische und durchaus tragikomische Momente, die fast an Slapsticknummern Buster Keatons erinnern. Es gibt Probleme mit dem Hotelzimmer, ein unabdingbares Tête à tête mit Fe, das Jo Lendle aus der Distanz, fast voyeuristisch zeigt, als »diesen Moment, in dem sie sich aufs Bett fallen ließen. Lambert hatte sich immer gefragt, wie das gelang und wer den Anstoß dazu gab. Als er nun selbst aufschlug, als der Schwung ihres Fallens sie für einen Moment in die weiche Matratze sinken ließ, hinein in den Fischschwarm der Tagesdecke, ärgerte er sich, nicht achtgegeben zu haben, wie es dazu gekommen war.«

Beim Erwachen am Morgen danach ein weiterer Einfall von Jo Lendle, der das Geschichtenkarussell anfeuert. Lamberts Herzensdame Fe ist auf und davon und hat all seine Kleider und Habseligkeiten mitgenommen. Der Held stürmt seiner Herzensdame dennoch kurzerhand in seiner Nacktheit nach. Nur umhüllt von einer Hotelgardine startet er eine verrückte Aufholjagd und nutzt die Methode des Geo-Cashing. Fes Wildpferden ist nämlich ein Chip zu Beobachtungszwecken eingesetzt, dderen Signal Lambert empfängt. Virtuos startet die Irrfahrt in einem Linienbus, die Aufholjagd geht über Stock und Stein, durch tiefe kanadische Urwälder bis zu einer verlassenen Aue.

Doppelgänger und Alter Ego

Dort in idyllischer Wildnis findet er schließlich Fe. Sie ist aber nicht allein. Neben ihr steht ein Mann. Dieser Dritte jedoch ist für Lambert kein Fremder, sondern er sieht aus wie der Held selbst. Lamberts Doppel. Sein Spiegelbild. Ein erzählerischer Trick. Denn Lambert ist unsicher, gespalten, hin- und hergerissen zwischen Andrea und der Neuen. Lambert Nummer 1 zögert, schwankt, während sich Lambert Nummer 2 bedingungslos an den Hals von Fe wirft. Lendle strapaziert an dieser Stelle die moderne Psychoschiene deutlich, wenn er seinen Helden mit seinem Spiegelbild und alter ego ringen lässt. Heftiger Dialog. Wettstreit. Großes Kino.

Parodiert hier Jo Lendle die großen »Minne«-Dichtungen von Martin Walser? Nicht nur sein Romantitel Was wir Liebe nennen erinnert an Walsers Lebenslauf der Liebe (2001) oder an den Augenblick der Liebe (2004). Man mag sogar versucht sein Das dreizehnte Kapitel nachzulesen: Denn auch in diesem Walserschen Roman von 2012 durchquert ein Paar den Norden Amerikas. Per Bike – als finaler Trip ins Nirgendwo. Und auch Lendle lässt Kanadas Wildnis bereisen – diesmal allerdings auf Urpferden, die auch von Frau Touchburn verzaubert werden! Und auch dieser Ritt ist ein einmaliger und ultimativ letzter Ritt für unser Liebespaar.

Schicksalsverstrickung auch im Roman von Jo Lendle. Er antizipiert Lamberts Ambivalenz und Zerrissenheit symbolträchtig: Lendle zeigt eine Eidechse, die Fe zu Beginn ihrer Beziehung zu Lambert in ihrer Hand hält. Das Tier ist zerrissen, geteilt: »In der anderen hielt sie den Schwanz der Eidechse.« Als wissender Leser empfindet man hier sogleich Empathie für den armen Lambert, der von SMS-Nachrichten seiner Lebensgefährtin genauso bedrängt wird wie berückt von den Wünschen Felicitas.

Alles eine Kettenreaktion!

Eidechsen, Urpferde, Doppelgänger und die »Liebe« – alles nur ein »Durcheinander … rudimentärer biochemischer Prozesse… ein Schwappen von Körperflüssigkeiten, ein aus dem Takt geratener Tanz…«. Nicht ganz. Lendle beginnt grundlegend, fast hymnisch. In einer Art Vorwort blickt er auf das, Was wir Liebe nennen: »Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt… Dann erst kommt alles andere, der Rausch, die Aufregung, das Glück… Es ist Mangel und Fülle, Ungenügen und Überfluss…« – Eine nahezu klassische Introduktion, ein Impuls, das große Erzählkunst erwarten lässt. Ein Einstiegspotenzial mit tragisch-komischer Fallhöhe.

Denn was nun folgt, ist wie ein Schlag. Ein ironischer Schock. Lakonisch beginnt also das erste Kapitel: »Morgens um drei durch Osnabrück zu laufen war wie ein Spaziergang durchs Universum kurz vor dem Urknall.« Der Auftakt, ein Schöpfungsakt und auch der Beginn von Lamberts Reise, gleichzeitig Universum und auch Provinz. Diese Verknüpfung hat etwas leicht Groteskes, Verstörendes, und wird durch den gesamten Roman weitergeführt.

Wie Dominosteine verbinden sich scheinbar beziehungslose Motivketten: Lambert flirtet mit einer Stewardess, was ihm misslingt. Er sucht danach den Kontakt zu seinen Platznachbarinnen im Flieger, einem kleinen Mädchen und dessen Mutter. Auch da entsteht ein merkwürdiges Verhältnis. Dann erinnert er sich an seine Lebensgefährtin Andrea, denkt an seinen verstorbenen Vater, an den Grund seiner Reise und erlebt eine Bruchlandung. Das Zwischenresultat: Er endet im Hotelbett mit den beiden Sitznachbarinnen. Alles hochvirtuos und komisch grotesk. Und als Steigerung in Kanada der Unfall mit dem Pick-up. Ein epischer Turbo-Gang mit assoziativen Kapriolen!

Lambert unternimmt mit Fe eine gemeinsame Bootsfahrt in einem geraubten Kahn. Ihr erstes gemeinsames Zusammensein! Das alles muss natürlich symbolisch passend ausgestattet werden: das Wasser als das gemeinsam Verbindende vom Atlantik bis zu Osnabrücks Gewässer. Fe wird zur Wassergöttin und Lambert sieht sich als Moses im Binsenkörbchen. Auch das Paddeln wird bedeutungsvoll: »Es war nicht im engeren Sinne das, was man Sex nannte, aber dicht an Fe gedrängt auf der engen Bank zu sitzen, ihr zuzusehen, wie sie sich mit dem Paddel abmühte, zu wissen, dass sie selbst ihm ebenfalls zusah, wenn er an der Reihe war, … kam schon ziemlich nah heran…« In diesen Passagen trägt Jo Lendle schon dick auf, was ihn durchaus in literarisch trübes Gewässer treibt.

Und Lendle kann stellenweise nicht der Versuchung widerstehen, sein ungeheueres enzyklopädisches Wissen zu demonstrieren, das er schon in seinen früheren Romanen unter Beweis gestellt hat: Wiederum muss die »Kontinentaldrift« aus Alles Land (2011) herhalten, er lässt Kluges über einen russischen General und Entdecker einfließen und kennt sich auch bei Kirchenrestaurierungen aus. Diese Themen wechseln in atemberaubender Geschwindigkeit mit den Erinnerungen, Rückblicken, Gedanken.

Jedoch erzählt Jo Lendle in seinem Roman Was wir Liebe nennen nicht immer in diesem Prestissimo. Es gibt auch stille Passagen, Innehalten, Reminiszenz. Sehr introvertiert zeigt er sich als Naturbeobachter, wenn er die Paarung der Weinbergschnecken beschreibt und sein Blick wie zufällig die erste Berührung der beiden Liebenden erfasst. Für Schneckenliebhaber jedenfalls sehr stimmungsvoll! Philosophisch und lyrisch auch das Finale. Die Beziehung zwischen Lambert und Fe als Moment zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit. Zeitlosigkeit nach einem Rausch »unerhörter Geschwindigkeit«.

Am Schluss platonische Einheit und Einfalt. Und leichter Zweifel daran, ob Jo Lendle die Fliehkraft seiner gewaltigen Fantasie in Was wir Liebe nennen überhaupt bändigen wollte.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Jo Lendle: Was wir Liebe nennen
München: DVA 2013
256 Seiten. 19,99 Euro

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