Alles kreist in dieser Familie um das Körpergewicht der Mutter. Davon werden Ansehen, soziale Akzeptanz und beruflicher Aufstieg abhängig gemacht – vor allem der des Vaters. Selbst die Tochter steht fassungslos vor dem Schlachtfeld dieser Ehe. Daniela Dröschers Roman Lügen über meine Mutter liest sich wie die späte Rehabilitation einer Frau, die um Selbstfindung und Selbstbewusstsein ringt. Von INGEBORG JAISER
Wer erinnert sich noch an die Highlights der 80er Jahre? Die Uferschwalbe, der Weißstorch, die Saatkrähe steigen zu den Vögeln des Jahres auf. Jennifer Rush beschwört mit kehliger Stimme Power of Love und Flashdance avanciert dank heißer Tanzszenen zum kultigen Kinohit. Selbst einer vergessenen Gegend in Deutschland verhilft der Regisseur Edgar Reitz zu ungeahnter Popularität: der fiktive Ort Schabbach im Hunsrück ist angesichts seiner Heimat-Trilogie bald jedem Fernsehzuschauer ein Begriff.
Auch Daniela Dröscher siedelt ihren neuen Roman in dieser Region an. Lügen über meine Mutter spielt in den Jahren 1983 bis 1986 in der gleichermaßen fiktiven, wie beklemmend realistisch beschriebenen 500-Seelen-Gemeinde Obach, zwischen Sportplatz und Neubaugebiet. Staunend betrachten wir diese kleine Welt durch die Augen des Kindergarten- und Grundschulkindes Ela, das – hin- und hergerissen zwischen aufbrausendem Vater und beschwichtigender Mutter – vorsichtig nach Orientierung sucht, Regeln auslotet. »Lügen, weinen und mit Essen spielen, das waren die drei Todsünden.« Doch es scheint noch mehr schiefzulaufen in diesem »Kammerspiel namens Familie«.
FdH und Trennkost
Fast permanent herrscht eine Grundstimmung, die die im selben Haus wohnende Großmutter »so ä Zores« nennt. Die Schuld daran liegt offenbar immer bei der Mutter. Sie hat nicht nur einen eigenen Kopf, sondern einen eigenen Körper. Ihre pure Leibesfülle sprengt alle Maßstäbe und Schönheitsideale, gilt als offene Provokation. Wie kann eine Dicke auffallend geschminkt und sorgsam gekleidet so selbstbewusst durchs Dorf stöckeln? Als Fremdsprachensekretärin auch noch ehrgeizig ein »Französisch-Diplom« anstreben? Vor allem der Vater ist der Meinung, sich für seine Frau schämen zu müssen. Schlimmer noch: sieht ihre mangelnde Vorzeigbarkeit als Ursache für seine eigene berufliche Stagnation. Wenn nur die Frau an seiner Seite endlich abnähme, stände seiner Beförderung nichts mehr im Wege. Widerwillig sieht sich die Mutter immer wieder zu Diäten, Weight-Watchers-Treffen, ja sogar einer Kur genötigt.
Dabei geht es um etwas ganz anderes. Die offen ausgetragenen Rivalitäten, die eheliche »Konkurrenz um Zeit, um Geld, um Deutungshoheit«, wird auch durch eine unerwartete Erbschaft nicht abgemildert. Während sich der Vater mit ständig neuen Autos, Reisen, riskanten Transaktionen und einem ambitionierten Bauprojekt belohnt, zerreißt sich die Mutter zwischen zwei eigenen und einem Pflegekind, der dementen Großmutter und den zu beaufsichtigenden Handwerkern. Und legt weiter an Gewicht zu. Dass dies in einem finalen Zusammenbruch enden wird, ahnt nicht nur die Tochter Ela.
Jeder Mensch hat drei Leben
Es bedarf keiner besonderer Spitzfindigkeiten, um hinter diesem Roman autobiographische Spuren zu erahnen. Doch die 1977 geborene, im Hunsrück aufgewachsene Autorin Daniela Dröscher hat viele Jahre benötigt, um für dieses Thema die passende Erzählhaltung zu finden. Letztendlich bedient sie sich eines überzeugenden Kunstgriffs und stellt der Sichtweise eines kleinen Mädchens einen zweiten Blickwinkel gegenüber, essayistisch, analytisch, sozialkritisch, aus der Warte einer Erwachsenen reflektierend. Dank dieses Perspektivenwechsels erscheint das Geschehen zwar rational erklärbar, jedoch umso ungeheuerlicher.
Eine Ehe ohne gemeinsamen Nenner: hier der Vater als Selfmademan, der sich aus einer bäuerlichen Familie in einen »sauberen« Beruf hochgearbeitet hat und sein Heil in Zahlen, Gleichungen, Berechnungen sieht – dort die Mutter, der als Kind »schlesiendeutscher« Eltern zeitlebens der Makel der »von auswärts« Kommenden anhaftet und die ihre Rettung im Erlernen fremder Sprachen findet. Tragikomischer Moment: da sie als Ehefrau über kein eigenes Zimmer, keinen persönlichen Ort verfügt, muss sie die Visitenkarte eines Vertrauten zwischen den Seiten ihrer Kalorientabelle verstecken. Unweigerlich fühlt man sich an den Satz von Gabriel Garcia Marquez »Jeder Mensch hat drei Leben: ein öffentliches, ein privates und ein geheimes« erinnert.
Beklemmend minuziös schildert Daniela Dröscher die Mechanismen der patriarchalischen Unterdrückung aus gar nicht so fernen Zeiten. Doch bei der Ausschmückung alltäglicher Details scheint ihre Erinnerung zu trügen. Ob Mitte der 80er unter Mädchen wirklich noch Gummitwist angesagt war? Und in Kitzbühel bereits Aperol zum Après-Ski getrunken wurde? Den Lesefluss trüben solch unbedeutenden Unschärfen allerdings kaum. Als berührender Gesellschaftsroman wurde Lügen über meine Mutter für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat bereits den Sprung auf die Shortlist geschafft. Man darf gespannt sein.
Titelangabe
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022
442 Seiten, 24 Euro
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