Ein wenig Leben

Roman | Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Er hört ihnen allen geduldig zu, doch über sich selbst schweigt er. Judes Freunde kennen seine Vergangenheit nicht. Sie haben aufgehört, Fragen zu stellen, denn er würde ihnen ausweichen. Sie lieben ihn einfach, so wie er ist. Doch er selbst kann es nicht, denn die Wahrheit holt ihn immer wieder ein. Von MONA KAMPE

Hanya Yanagihara - Ein wenig LebenJude St. Francis hat auf den ersten Blick alles erreicht: erfolgreicher Partner in einer bekannten New Yorker Anwaltskanzlei, schickes Loft, hochintelligenter, charismatischer, aufopfernd liebender Mensch und guter Freund. Seine Kollegen schätzen den Workaholic, der kaum einen Fall verliert, seine engsten Freunde, die ihn seit Studientagen begleiten, lieben ihn.

Doch sie wissen ganz genau, dass etwas nicht stimmt, wenn er selbst an den wärmsten Tagen nicht ohne T-Shirt oder verhüllte Arme herumläuft. Er hat außerdem einen seltsamen Gang. Sie wissen, ihn überkommen manchmal furchtbare Schmerzen und er kann nicht laufen. Für solche Tage benutzt er widerwillig einen Rollstuhl.
Doch sie haben aufgehört, zu fragen, denn über seine Vergangenheit schweigt Jude. Sie wissen nur, er hat keine Verwandte und ist in einem Kloster groß geworden. Er selbst weiß alles über sie, ist für sie da – stets der liebenswerte, gute Zuhörer, den sie brauchen.

Warum führt er keine Beziehung? Hatte er welche in der Vergangenheit? Er ist doch so attraktiv – nur er selbst weiß es nicht. In seinen dunkelsten Momenten ritzt er sich an den Armen und gewinnt das gute Gefühl zurück, die Kontrolle über sich, seinen Körper und die Welt. Diese Tage kommen immer wieder, denn die Wahrheit über sich kennen nur er und Ana – der einzige Mensch, dem er sie anvertraute –, die jedoch gestorben ist. Judes Arzt und Vertrauter Andy sieht seine tiefen Vernarbungen mit Schrecken und als Hilferufe, doch jede Standpauke bleibt zwecklos.

Lichter am Horizont

Dabei scheint Judes Leben auf den ersten Blick erfolgreich und schön, denn es wird von Menschen begleitet, die ihn schätzen und so nehmen, wie er ist: Künstler JB, Architekt Malcolm, Schauspieler Willem. Alle vier verbindet seit Studientagen eine tiefe, existenzielle Freundschaft, die erst zu bröckeln beginnt, als JB gegen Judes Willen ein Gemälde von ihm veröffentlicht. Sie bilden die Familie, die sich Jude immer gewünscht hat. Und dann ist da noch sein ehemaliger Professor Harold und dessen Frau Julia, die ihn adoptieren und ihm damit ein offizielles Zuhause schenken.

Doch so sehr sie alle versuchen, Jude von seinem unschätzbaren Wert für sie zu überzeugen, es gelingt ihnen nicht. Denn würden sie seine dunklen Geheimnisse der Vergangenheit kennen, weiß er, sie ekelten sich vor ihm, denn er selbst verachtet sich. Dies bestätigt ihm auch sein Liebhaber Caleb, denn als dieser ihm näherkommt, führt das zu einer furchtbaren Katastrophe, die alle Lichter an Judes Horizont endgültig auszulöschen droht. Da »begann er und sah, wie Willem sich ihm gegenüber vorbeugte und die Ellenbogen auf den Tisch stützte, denn zum ersten Mal in ihrer Freundschaft war er der Zuhörer, wurde ihm eine Geschichte erzählt«.

Ein ewiger Kampf, der uns schaudern, fiebern und fühlen lässt

Der US-amerikanischen Schriftstellerin und leitenden Redakteurin eines ›New York Times‹-Stilmagazins Hanya Yanagihara, die den ›Kirkus Prize‹ gewann und für den ›Man Booker Prize‹ nominiert war, gelingt mit ihrem Roman ›Ein wenig Leben‹ ein beeindruckend facettenreiches und tiefgehendes Leseerlebnis, das keinen Rezipienten unberührt lässt.
Ebenso zwiespältig wie Protagonist Jude St. Francis selbst findet sich auch der Leser wieder, wenn er sich seitenweise durch dessen Leben begibt und diesem nur langsam und bruchstückhaft immer näherkommt. Die Autorin formt einen großartigen Spannungsbogen zwischen ihm und den Charakteren um ihn herum, ihren Beziehungen und Lebensabschnitten, Vergangenheit und Gegenwart – einen einzigartig herzzerreißenden, aufwühlenden, nachdenklichen Kampf. Judes Kampf um ein glückliches Leben, seine Höhen und Tiefen, Lichtblicke und Abgründe, Selbstzweifel und Selbstzerstörungsdrang, fesseln den Rezipienten und lassen ihn selbst unweigerlich über eigene Lebensumstände nachdenken.

Die ewige Frage, was wirklich mit ihm geschah und ob er seinen Dämonen endgültig entkommen kann, ist so existenziell wie die ewige Freundschaft, die zwischen ihm und den drei anderen Akteuren besteht. Er kann mit sich selbst nur Frieden schließen, wenn er ihnen das Tor zu sich öffnet. Damit diskutiert der Roman das, was für uns ein glückliches Leben ausmacht: Liebe, Vertrauen und Identität als Basis für Beziehungen, Erfolg und Anerkennung. Fehlt nur ein Glied, kann die Kette auf Dauer nicht bestehen.

So ist der Leser gemeinsam fiebrig mit Willem, JB und Malcolm auf der Suche nach dem Puzzleteil, was das große Rätsel um Jude löst – auch, wenn er dafür so manches Mal schaudernd oder verzweifelt das Buch zuschlägt. Aufmachen wird belohnt.

MONA KAMPE

Titelangaben
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben
Berlin: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Kleiner
960 Seiten, 28 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Aus sich herausgehen

Nächster Artikel

Fantasy-Nostalgie

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Schreibe, was mir gefällt

Menschen | 75. Geburtstag von Martin Suter

Seine Kreativität und sein Arbeitseifer scheinen grenzenlos zu sein. Vor einem Jahr legte der Schweizer Erfolgsautor Martin Suter unter dem Titel ›Einer von euch‹ eine Romanbiografie über den Fußballstar Bastian Schweinsteiger vor, er war kürzlich Hauptdarsteller einer Kino-Dokumentation, und kurz nach seinem 75. Geburtstag erscheint sein neuer Roman ›Melody‹.
PETER MOHR

Who you’re gonna be, Archie?

Roman | Paul Auster: 4 3 2 1 »Nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte«. Ein Junge – vier Leben. Alles ist möglich. Begeben Sie sich gemeinsam mit Archie Ferguson und MONA KAMPE in ein faszinierendes Gedankenspiel.

Heimkehr mit Hindernissen

Roman | Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels

Am 1. August 1976 stürzte die die Wiener Bezirke Leopoldstadt und Donaustadt verbindende Reichsbrücke auf voller Donaubreite ins Wasser. Am Nachmittag desselben Tages verunglückte auf dem Nürburgring der österreichische Formel-1-Pilot Niki Lauda mit seinem Ferrari schwer. Zufall oder Koinzidenz der Ereignisse? Wenn Heinrich Steinfest solche Ereignisse in das Leben seiner Romanfiguren hereinholt, ahnen die Leser inzwischen bereits: Es wird wieder einfallsreich. Und alles, auch das Unglaublichste, ist möglich. Denn »pure Zufälle sind der Aberglaube der Aufklärung.« Von DIETMAR JACOBSEN

Letzte Wahlverwandtschaften

Roman | Peter Härtling: Der Gedankenspieler Weise, feinsinnig und versöhnlich begegnet uns Peter Härtlings letzter Roman, der dennoch das Wissen um die letzten Dinge preisgibt, der schonungslos den langsamen Abschied benennt. Denn sein Johannes Wenger – Protagonist, Gedankenspieler und Alter Ego – erträgt nur mit spöttischer Ironie und Eigensinn die Malaisen des Alters. Einen Zustand, »der einer Existenz zwischen Grube und Gipfel gleicht, zwischen nicht mehr hier und kaum noch dort.« Von INGEBORG JAISER

Geheimdienste in der Sinnkrise

Roman | John le Carré: Silverview

Am 12. Dezember 2020 verstarb mit John le Carré der Schriftsteller, dessen Name wohl am engsten mit der Geschichte des Spionagethrillers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Ob Kalter Krieg, Globalisierung, internationaler Terrorismus oder Systemwandel nach 1989/90 – John le Carrés Romane suchten immer eine Antwort auf die Zeit, in der sie entstanden. Nun ist mit Silverview ein letztes Buch aus dem Nachlass des Mannes erschienen, dessen Werken nicht nur eine zeitpolitische, sondern auch eine literarische Bedeutung zukommt. Noch einmal wird darin über die Beschreibung einer verhängnisvollen Konfrontation die Aufmerksamkeit auf brisante Fragen unserer Gegenwart gelenkt. Von DIETMAR JACOBSEN