Als die Polizei nach der Kollision eines Güterzuges mit einem Pkw nahe der Stadt Bingen am Rhein feststellt, dass der Fahrer des Autos nach dem Unfall mit vier Schüssen geradezu hingerichtet wurde, mischt sich sofort der militärische Nachrichtendienst des Großen Generalstabs aus Berlin in die Angelegenheit ein. Man schreibt das Jahr 1910 und die militärische Elite des Kaiserreiches ist fest davon überzeugt, dass ein Krieg in der Luft liegt. Deshalb wittert man überall Spione und hat in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts alle Abteilungen, die sich mit der Strategie zukünftiger Siege sowie der Spionageabwehr beschäftigen, massiv aufgestockt. Das hat auch Major Albert Craemer, einst bei der Kriminalpolizei tätig, zu einem neuen Job verholfen. Als Leiter der Frankreich-Abteilung des Geheimdienstes, die von dem Zwischenfall in Bingen besonders betroffen ist, weil die Insassen des Pkw offensichtlich Franzosen waren, begibt er sich gemeinsam mit seiner jungen Mitarbeiterin Lena Vogel sofort vor Ort. Von DIETMAR JACOBSEN
Berlin 1910. Obwohl es noch vier Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind, spürt man in der immer komplexer werdenden Welt der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts bereits seine Vorwehen. Mit Hochdruck arbeiten die entsprechenden Industriezweige an der Erprobung und Produktion neuer Waffen. Hinter verschlossenen Türen werden Pläne zur Mobilmachung und der Koordination des Einsatzes der Streitkräfte gemacht. Und weil man überall die Augen und Ohren des Feindes wittert, kommt auch der Spionageabwehr eine bedeutendere Rolle zu als bisher. Zumal wenn es um ganz neue Möglichkeiten der Kriegführung geht.Als deshalb die Berliner Albatros-Werke den Franzosen drei moderne Flugapparate abkaufen, findet die Überführung der Maschinen, deren Weiterentwicklung für den Kriegseinsatz man sich sehr gut vorstellen kann, aus Vionville in Elsaß-Lothringen über Saarlouis nach Berlin unter den wachsamen Augen des Geheimdienstes statt. Und trotzdem kommt eines der drei Flugzeuge weit von seinem Kurs ab und taucht schließlich auf einem Feld in der Gegend von Völklingen wieder auf. In der notgelandeten Maschine findet man nicht nur deren toten Piloten, sondern auch eine hochmoderne Kamera französischen Ursprungs. Mit ihr hat der Mann offensichtlich verbotene Luftaufnahmen im deutsch-französischen Grenzgebiet gemacht. Ein Spion im Sold des »Erbfeindes« Frankreich.
Spione im deutsch-französischen Grenzgebiet
Aber was interessiert den französischen Geheimdienst so sehr, dass er bereit ist, das Leben von gleich mehreren seiner Leute zu riskieren und für unnötiges Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit zu sorgen? Denn auch die beiden Insassen jenes Autos, das kurz vorher bei Bingen mit einem Güterzug kollidierte, waren Franzosen und ganz offensichtlich in geheimer Mission unterwegs. Doch wer hat sie verfolgt und kaltblütig dafür gesorgt, dass sie nicht mehr aussagen können? Ein Fall für Major Albert Craemer und seine Sekretärin Lena Vogel, die nicht nur in Büroarbeit versiert ist, sondern außer ihrem Schirm als bedrohlicher Allzweckwaffe auch noch etliche andere Fähigkeiten mitbringt, die sie zur Geheimagentin prädestiniert erscheinen lassen. Als zu dem schlagkräftigen Berliner Duo schließlich noch der Fliegerleutnant Gustav Nante stößt, dessen Stiefvater dem mit Craemer konkurrierenden Inlandsgeheimdienst vorsteht, ist alles bereit für ein waghalsiges Abenteuer mit überraschendem Ausgang.
Für Matthias Wittekindt (Jahrgang 1958) und Rainer Wittkamp (1956 – 2020) ist Fabrik der Schatten ihr zweites gemeinsames Buch. Schon in Mord im Balkanexpress (2018) wandten sie sich der Belle Époque zu, jenen knapp 30 Jahren um die Wende zum 19. Jahrhundert, in denen das faszinierende Neue in nahezu allen Lebensbereichen noch eine Zeitlang verdeckte, dass man sich eigentlich auf dem Weg in eine große Weltkatastrophe befand. Die ist im vorliegenden Roman der beiden Autoren nun näher gerückt. Ganze vier Jahre fehlen noch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Das macht die Nervosität in den oberen Etagen der Heeresleitung verständlich, herrscht dort doch schon seit einiger Zeit die Überzeugung, dass es für die Siege der Zukunft nicht ausreichen wird, Kriege auf die herkömmliche Weise zu führen. Also arbeiten im Verborgenen Wissenschaftler, Militärs und Wirtschaftsstrategen fieberhaft daran, Mittel und Methoden zu ersinnen, um in den kommenden Schlachten die Oberhand zu behalten. Und denen ist jedes Mittel recht, um zu verhindern, dass man ihnen auf die Sprünge kommt.
Der Flieger und die Amazone
Die beiden Autoren haben die unterschiedlichen Erzählperspektiven ihrer historischen Spionagegeschichte geschickt miteinander verwoben. Damit der Leser die personelle und geographische Übersicht behält, wurden dem Roman ein Personenverzeichnis und eine Karte Europas im Jahre 1910 voran- und ein kleines Glossar mit Begriffserklärungen nachgestellt. In einer schönen, historisch bis in das Jahr 1895 zurückgreifenden Nebengeschichte erzählen die beiden Autoren übrigens, wie aus der galizischen Jüdin Rahel Tajtelbaum, einem verträumten, von den Eltern in ihrem Bildungsdrang kaum geförderten Mädchen, durch ein bisschen Glück und viel eigene Willenskraft schließlich die vorwitzig-intelligente Lena Vogel wird und zur rechten Hand von Albert Craemer aufsteigt – eine Geschichte, die man sich auch als separaten Roman gut hätte vorstellen können.
Mit dem Tod von Rainer Wittkamp am 29. Dezember 2020, kurz vor Fertigstellung von Fabrik der Schatten, sah sich der zweifache Deutscher-Krimi-Preis-Gewinner Matthias Wittekindt übrigens plötzlich auf sich allein gestellt. Inzwischen freilich arbeitet er weiter an Band 2 der Reihe. Zu interessant das Thema, zu ausbaufähig das Figurenensemble, zu brisant und gegenwartsnah die Zeit der Handlung, um die Flinte bereits nach einem Buch ins Korn zu werfen. Und das Weiterschreiben dürfte sich wahrscheinlich sogar ein wenig so anfühlen wie die Erfüllung eines Vermächtnisses.
Titelangaben
Matthias Wittekindt/ Rainer Wittkamp: Fabrik der Schatten
München: Wilhelm Heyne Verlag 2022
367 Seiten. 11 Euro
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