Und es war Sommer. Zum allerletzten Mal

Comic | Lukas Jüliger: Vakuum

Lukas Jüliger gibt sein Buchdebüt bei Reprodukt mit einem melancholisch-verstörenden Coming-of-Age-Märchen: Vakuum schafft einen hypnotischen Bildersog in eine Welt, in der Alltag und Traum ununterscheidbar miteinander verschmelzen. SEBASTIAN DAHM hat sich darin verloren.

vakuumDie Liste der Coming-of-Age-Stories ist lang. Praktisch jedes Medium hat das Erwachsenwerden bereits auf vielfältige Weise abgehandelt. Eine Sache haben dabei alle Werke gemein: Einfach ist es eigentlich nie. Das ist auch in Lukas Jüligers erster Graphic Novel nicht anders. Genau genommen war es vermutlich nie schwieriger.

Teenagerliebe

Vakuum verpasst dem klassischen Boy-Meets-Girl-Schema einen recht düsteren Anstrich: Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler ist ein ganz und gar durchschnittlicher Junge – schlaksig, ein wenig schüchtern, Kapuzenpulli – und führt ein ganz und gar durchschnittliches Leben. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sein einziger Freund Sho nach einem Drogenexperiment zu einem emotionslosen und lethargischen Automaten wird. Mit der Leere in seinem Leben kommen Einsamkeit und Langeweile. Dann wird es Sommer und er lernt – wie könnte es anders sein – ein Mädchen kennen. So weit, so typisch. Nur ist dieses Mädchen eben nicht der nette, etwas schüchterne Gegenpart, sondern katzenhaft, geheimnisvoll und durchaus soziopathisch. Ihr Zimmer ist voll von seltsamen Gemälden und bei jedem Treffen läuft sie unvermittelt in den Wald, um dort – ja, was eigentlich? – zu tun. Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an und so könnte sich das Ganze tatsächlich zur schönsten Teenager-Romanze entwickeln. Doch während sich die beiden mehr und mehr in ihrer eigenen Zeitkapsel verlieren, beginnt ihre Alltagswelt nach und nach zu zerfallen: Sho beginnt ohne ersichtlichen Grund, alle seine Besitztümer systematisch zu zerstören. Ein stiller, unauffälliger Junge vergewaltigt eine Mitschülerin und nimmt sich danach mit Beruhigungsmitteln das Leben. Sein älterer Bruder, ein stadtbekannter Außenseiter, prophezeit die Apokalypse. Und tatsächlich scheinen all diese Ereignisse auf einen unheilvollen Höhepunkt zuzulaufen.

Horror Kleinstadt

Es ist ein ziemlich desillusionierter Blick, den Lukas Jüliger in seinem Erstling auf die Gesellschaft wirft. Hinter der Fassade kleinstädtischer Bürgerlichkeit verbergen sich tiefe Abgründe: Für die Mitschüler ist die unbegreifliche Tat lediglich eine morbide Sensation – eine Gelegenheit, sich nachts im Krematorium zu treffen, um die Leiche des toten Jungen zu begaffen, der noch am Tag zuvor ein Klassenkamerad gewesen ist. Daher ist Vakuum eben kein verklärendes Teenagermärchen, sondern zeichnet ein verstörendes Bild adoleszenter Entfremdung. Lukas Jüligers Protagonisten fühlen sich zunehmend abgestoßen von ihrer eigenen ignoranten und kalten Generation, für die z.B. Mobbing zum alltäglichen Zeitvertreib geworden ist. Was dagegen das Erwachsenwerden bedeutet, kann man an dem Leben der eigenen Eltern erkennen, die ein sinnentleertes Leben zwischen Arbeit, festen Mahlzeiten und hohlen Ritualen führen – an dem Leben derer, die „aufgegeben haben“, wie es einmal heißt. Und so bleibt nur die Liebe, die in Vakuum schön und furchtbar zugleich ist, weil sie praktisch zur Droge wird.

Bildersog

Die Graphic Novel handelt eine Woche im Leben ihres Figureninventars ab, präzise in einzelne Wochentage unterteilt. Eine Woche, die für die Protagonisten zu der schönsten Zeit ihres Lebens wird. Dann dämmert der Montagmorgen herauf, gewittrig und unheilvoll, und es wird klar, dass sich die Spannung entladen muss. Das tut sie mit einer melancholisch-brutalen Schlussfolgerung, die den Leser trocken schlucken lässt. Vakuum verlangt einem einiges ab – Alltag, Traum und Albtraum liegen eng beieinander und lassen sich oft nicht mehr unterscheiden. Diese Vielschichtigkeit setzt sich in der visuellen Gestaltung fort. Die Zeichnungen scheinen von einer fast kindlichen Naivität und Schlichtheit zu sein. Auf den zweiten Blick weisen sie jedoch eine bemerkenswerte Komplexität auf, die sich nicht im reinen Detailreichtum erschöpft. Die visuelle Stärke von Vakuum liegt in der Komposition, dem subtilen Spiel mit Perspektive, Bildausschnitt und Symbolik, das bisweilen in scharfem Kontrast zum weichen Ineinander der Formen und dem Kindchenschema der Figuren steht: dann nämlich, wenn man den Schülern den Porno vom letzten Abend nicht nur im übertragenen Sinne von der Stirn ablesen kann, wenn Gesichter zu deformierten Masken werden, wenn die Natur ein bedrückendes und surreales Eigenleben zu entwickeln scheint.

Vakuum erzählt vom letzten Sommer der Jugend und das in einer selten erlebten Intensität, mit allen Glücksmomenten, aller dunklen, betörenden Magie und allen Ängsten und Abgründen. Und ohne jegliche Illusionen, denn das Erwachsenwerden stellt hier keine Option mehr dar.

| SEBASTIAN DAHM

Titelangaben
Lukas Jüliger: Vakuum
Berlin: Reprodukt 2012
112 Seiten. 20 Euro

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