Der umgezogene Stadtneurotiker

Comic | Jimmy Beaulieu: Am Ende des Tages

Ein loses Konglomerat an autobiographischen Kurzcomics, die zusammengenommen ein komplexes Selbstbildnis ergeben: Jimmy Beaulieus Sammelband ›Am Ende Des Tages‹ vereint ältere und neuere Erzählungen, die tief blicken lassen – nicht jedoch in die Röhre. Von CHRISTIAN NEUBERT

Alle Leute in Jimmys Umfeld zieht es nach Montreal. Er jedoch wünscht sich keineswegs aus Quebec weg. Immerhin fordert ihn sein Job im Buchladen nicht gerade stark heraus, sodass er zwar nicht unbedingt reich, aber immerhin nicht allzu gestresst an seinen Comics arbeiten kann. Abgesehen davon gehen dort ständig schöne Frauen ein und aus. Frauen, mit denen er sich nach Feierabend herumschlägt, wenn auch nicht ganz so erfolgreich.

titel457So oder so ähnlich könnte man die grobe Rahmenhandlung von ›Am Ende Des Tages‹ beschreiben. Sie stellt seinen ›Geschichten In Der Ersten Person‹ einen Anfangspunkt, von dem aus sich ein narrativer Faden durch eine Vielzahl kleiner autobiographischer Kabinettstückchen spinnt. Beaulieu wurde in den letzten Jahren durch seine erotischen Comicerzählungen ›Ein Philosophisch-Pornographischer Sommer‹ und ›Nachtstück‹ bekannt.

Nun erzählt er, dass sein deutscher Verleger ihn gebeten hätte, ihm zu schicken, was er »an kurzen Geschichten auf Lager habe.« Er erzählt es in ›Ritter Vincent‹, eine jener Storys, die er seinem Verleger schickte und die gemeinsam mit vielen anderen den Band ›Am Ende Des Tages‹ bilden.

Bruchstückige Kabinettstückchen

Mitunter verliert sich mal eine längere Erzählung wie die knapp 40-seitige Kindheitsreminiszenz Parallelwelten zwischen die einzelnen, lose zusammenhängenden Episoden. Das Gros ist wesentlich kürzer. Kein Wunder: In seinen Kurzgeschichten offenbart der ständig an sich zweifelnde Neurotiker Folgendes: »Solange ich nur Bruchstücke habe, läuft es gut. Aber wenn ich versuche, ganze Geschichten zu erzählen, geht es schief. (…) Egal, welche spektakuläre Story ich mir ausdenke, ich zeichne nichts lieber als ein Mädchen, das aus dem Fenster schaut.«

Klar bekommt man dann auch viele schöne Mädchen von Beaulieu präsentiert. Mädchen, die nicht lediglich Abbilder eines einzigen überzeichneten Prototyps sind und deren Anmut er respektvoll in Szene zu setzen weiß – egal, ob er sie mit realistischer Detailfülle zu Papier bringt oder sie lediglich mit wenigen Bleistiftstrichen skizziert. Beaulieu auf einen schwärmerisch-ausbeuterischen Zeichner weiblicher Kurven zu reduzieren wäre jedoch falsch: Seine Figuren sind niemals bloßer Mittel zum Zweck – zumal sein Vermögen, Alltagsbeobachtungen zu geistreichen Anekdoten zu formen seinem Zeichentalent keineswegs nachsteht.

Ein Gesamtbild in Fragmenten

Abgesehen davon bedarf es oft auch keines epischen Ausholens, um Zusammenhänge und Gefühlswelten greifbar zu machen: ›Am Ende des Tages‹ bleiben nun mal lediglich Momentaufnahmen, lose Episoden und vage Fragmente. Die Erinnerung konstruiert sich aus einzelnen Szenen. Dies eingedenk hat Beaulieu mit seinem neuen Band sogar ein recht komplexes Werk vorgelegt. Zusammengenommen gewähren die ›Geschichten In Der Ersten Person‹ einen tiefen Einblick in die Lebens- und Gedankenwelt einer Künstlerpersönlichkeit. Und so gesehen tragen auch die skizzenhaften Zeichnungen zum stimmigen Gesamtbild des Comics bei. Zumal es eine Stärke Beaulieus ist, auch dann eine enorme Ausdrucksvielfalt in seinen Zeichnungen unterzubringen, wenn sie hin und wieder rudimentär und krakelig bleiben.

Irgendwie ist dieser Jimmy Beaulieu eine Mischung aus den Zeichnern Joe Matt, Bastien Vives und Robert Crumb, ausgestattet sowohl mit der Schwafeligkeit und der Überheblichkeit als auch mit den Selbstzweifeln eines Woody Allen. Klingt das gut? Definitiv. Entsprechend sieht es ›Am Ende Des Tages‹ auch aus, weswegen man über einzelne schwächere Episoden leicht hinwegsehen kann.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Jimmy Beaulieu: Am Ende des Tages
(Non-Adventures dans une monde ideal)
Aus dem Französischen von Karen Bo
Hamburg: Schreiber & Leser 2014
320 Seiten, 22,80 Euro.

Reinschauen
| Homepage des Künstlers
| Leseprobe auf der Verlagshomepage:

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Icke bin ein Berliner

Nächster Artikel

Folkdays aren’t over – Ulrika Bodén Band & Lisa Lestanders

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Ein verschollener Edelwestern

Comic | Hernández Palacios: Manos Kelly Gesamtausgabe In seiner vergleichsweise kurzlebigen Serie ›Manos Kelly‹ verknüpfte der große spanische Comiczeichner Antonio Hernández Palacios klassische Wildwestgeschichten mit detaillierter historischer Recherche über den spanischen Einfluss auf die Kolonisierung Nordamerikas und das Schicksal der Indianer. Obwohl kein großer Western-Fan, konnte sich BORIS KUNZ der Magie der Erzählung irgendwann nicht mehr entziehen.

Gratis Comic Tag 2017

Einen Feiertag für Comic? Den gibt es! Mit dem »Gratis Comic Tag«! Er findet diesen Samstag statt, also am 13. Mai – bei allen teilnehmenden Händlern. Sein Name ist dabei Programm: Einschlägige Verlage drucken spezielle Verschenk-Exemplare ihrer Erzeugnisse. 17 Verlage sind in diesem Jahr beteiligt, insgesamt winken 30 Gratis-Comic-Hefte.

Sterben nach Zahlen

Comic | Thomas Ott: The Number 73304-23-4153-6-96-8 Thomas Otts Schabkarton-Comic ›The Number 73304-23-4153-6-96-8‹ findet den Horror im Alltäglichen, lässt ihn in Zahlen gedeihen. In der Edition Moderne wurde nun die dritte Auflage veröffentlicht. CHRISTIAN NEUBERT hat sie sich vorgenommen.

We need to talk about Fight Club

Comic | Chuck Palahniuk (Autor), Cameron Stewart (Zeichner): Fight Club 2 – Buch 1 Wer ›Fight Club‹ kennt, wird sich fragen, wie eine Fortsetzung dieses Stoffes überhaupt denkbar ist. Wer ›Fight Club‹ nicht kennt, sollte augenblicklich aufhören, diesen Text und lesen und stattdessen seine Bildungslücke füllen. Danach wird er sich vermutlich dieselben Fragen stellen, wie BORIS KUNZ: Verkraftet diese Story eine Fortsetzung?

Doppeltes Glück mit dem roten Affen!

Comic | Joe Daly: Doppeltes Glück mit dem Roten Affen Comic-Zeichner scheinen kein sehr selbstzufriedenes Völkchen zu sein. Das könnte man zumindest glauben, wenn sie Vertreter ihrer eigenen Zunft porträtieren. Ob das Hideo aus I am a Hero ist oder jetzt Dave aus Joe Dalys Doppeltes Glück mit dem Roten Affen, meistens handelt es sich um jammernde Muttersöhnchen ohne Mutter, die mit verhassten Auftragsarbeiten Geld zu verdienen suchen.