Comic | Niles/Templesmith: 30 DAYS OF NIGHT 1: Die Barrow-Trilogie
Der heiße Gasball, der uns seit einigen Milliarden Jahren treue Dienste erweist, erfährt viel zu wenig Wertschätzung. Im Sommer wird geflucht, wenn er die Stadt in einen Glutofen verwandelt und im Winter wird gejammert, dass er doch endlich wieder scheinen soll. Steven Niles und Ben Templesmith haben mit 30 DAYS OF NIGHT eine 380 Seiten starke Anleitung zur Sonnenanbetung geschaffen. PETER KLEMENT über den Polarkreis, Vampire, Kafka, Remarque und phantasmagorische Bilder.
Die Barrow-Trilogie von Cross Cult sammelt den inzwischen auch verfilmten Plot eines Vampirangriffs auf das Städtchen Barrow am Polarkreis. Dort wird die Sonne erst nach dreißig Tagen nach Beginn der Invasion der Blutsauger wieder scheinen. Nach Jahrhunderten des Versteckens, um nur noch als Spukgeschichte im kollektiven Gedächtnis der Menschheit zu bleiben, treffen sich einige Vampire in Alaska, mit dem Ziel eine wilde Bacchanalie zu veranstalten, denn dort kann ihnen die Sonne nichts anhaben.
Um nichts nach außen dringen zu lassen, zerstören sie systematisch alle Flucht- und Kommunikationsmöglichkeiten. Kurz darauf brechen sie wie eine Naturgewalt über den isolierten Ort herein und nur diejenigen, die sich verstecken haben eine Chance zu überleben. Denn selbst Schrotflinten scheinen den Kreaturen nichts anhaben zu können. Aus den raubeinigen Pipelinearbeitern, Robben- und Waljägern werden chancenlose Gejagte, die sich in ihrer eigenen Stadt in einem ausgedienten Zentralofen verstecken und auf der Suche nach Vorräten voller Angst durch das ewig nächtliche Barrow schleichen.
Am Polarkreis nichts Neues
Die Graphic Novel nimmt ihre LeserInnen mit auf einen phantasmagorischen Horrortrip, der irgendwo zwischen Kafka und Remarque liegt. Kafka, weil die Situation eine groteske und ausweglose ist, die von keiner Seite durchbrochen werden kann. Remarque weil einer der letzte Sätze aus seinem berühmten Buch mit leichten Anpassung auch als letzter Satz für die Geschichten aus 30 DAYS OF NIGHT dienen könnten: »Granaten, Gasschwaden und Tankflottillen – Zerstampfen, Zerfressen, Tod. Ruhr, Grippe, Typhus – Würgen, Verbrennen, Tod, Graben, Lazarett, Massengrab – mehr Möglichkeiten gibt es nicht.«
In 30 DAYS OF NIGHT jagen sich Menschen und Vampire gegenseitig unerbittlich durch den Fleischwolf. Kleine Annäherungsversuche gehen sofort im Kugelhagel und Blutfontänen unter. Am Ende sind alle Monster. Die einen, weil sie durch ihre Blutgier und die mit der Unsterblichkeit einhergehenden Überheblichkeit mit dem Begriff Menschlichkeit nichts mehr anfangen können. Die anderen weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, als in den nietzscheanischen Abgrund zu starren, der sie zu zynischen Überlebenskünstlern macht, die mit einem gehässigen Grinsen die Untoten mit Maschinengewehren in Fetzen schießen. Es ist eine finstere Geschichte, an deren Ende die einzigen Helden die Toten auf beiden Seiten sind, die betrauert und natürlich gerächt werden müssen.
Dunkle, verschoben Schemen
Ben Templesmiths Stil orientiert sich an expressionistischen Stummfilmen, wie Das Cabinet des Dr. Caligari, die keine geraden Linien kennen und in denen die Schatten überall die Figuren zu verschlingen drohen. Die einzig dominante Farbe, die aus der Graphic Novel stets hervorsticht, ist Blutrot, das hier eimerweise vergossen wird. Die Vampire aus der Feder von Steven Niles sind keine verführerischen Aristokraten, sondern wildgewordene Raubtiere, die sich nur widerwillig an zivilisatorische Normen halten, um nicht im Zeitalter der digitalen Fotografie unversehens aus dem Reich der Legenden gerissen zu werden. Durch den expressionistischen Stil von Templesmith bekommt die Graphic Novel eine fieberhafte und phantasmagorische Dynamik, in der verschobene Fratzen das Leben verlieren oder anderen entreißen. Die künstlerische Gestaltung gibt dem Plot eine mächtige Wirkung, der sich die LeserInnen nicht ohne weiteres entziehen können – der Abgrund, vor dem die Figuren stehen, überträgt sich auch auf die Rezipienten. Wer Horror sucht, der wird ihn in 30 DAYS OF NIGHT finden; Lachinseln, auf die sich zartere Gemüter retten könnten gibt es hier keine.
Eine Parkbank im Frühling und Sonnenschein
30 DAYS OF NIGHT ist ein wilder Ritt voller Gewalt und mitten hinein in menschliche Abgründe, der sich durch das Zusammenspiel des dunklen expressionistischen Stils und des unbarmherzigen Plots ins Gemüt frisst. Klassische Kost mit Happy End wird hier nicht aufgetischt. So ein Ausflug in die Hölle reißt aus dem Trott und gibt den LeserInnen neue Wertschätzung für die alltäglichen Dinge. Am Ende schlagen sie die Graphic Novel zu, spüren die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht, sehen den Leuten beim Flanieren zu, stehen dann von ihrer Parkbank auf und spazieren nach Hause. Im Dunkeln sollte man 30 DAYS OF NIGHT wirklich nicht lesen. Man ist danach deprimiert, sieht zweimal unter dem Bett nach und zuckt bei jedem Knarzen im Gebälk nervös zusammen.
Titelangaben
Steve Niles (Autor) u. Ben Templesmith (Autor/Illustrator): 30 DAYS OF NIGHT 1: Die Barrow-Trilogie.
Aus dem Englischen von Frank Neubauer
Ludwigsburg: Cross Cult 2013
380 Seiten, 35 Euro