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Christoph Heins aktuelles Buch »Vor der Zeit« erzählt alte Mythen neu

Kurzprosa | Christoph Hein: Vor der Zeit. Korrekturenx

Mythen sind versprachlichte Menschheitserfahrungen. Jede Kultur besitzt die ihren. In poetischer Form geben sie Auskunft über das Woher und Wohin einer Gesellschaft. Christoph Hein hat sich nun 25 dieser Erzählungen vorgenommen und sie mit kleinen Korrekturen versehen. Und augenblicklich wird evident: Auch uns haben Zeus und Hera, Helena und Dionysos, Eros und Echo noch einiges zu sagen. Von DIETMAR JACOBSEN

wandzeit
Mit Heinrich Schliemann (1822 – 1890) beginnt Christoph Heins neues Buch – dem Mann, der als der Wiederentdecker des antiken Troja gilt. Und gleich in dieser ersten von knapp zwei Dutzend Episoden seines äußerst vergnüglich zu lesenden Götterpandämoniums wird das raffinierte Spiel ersichtlich, das der Autor betreibt. Denn Schliemann, dessen Namen die Historie in goldenen Lettern überliefert hat, wirft einen großen, verdunkelnden Schatten auf all die anderen, die es – mit gleichem Fleiß und nicht weniger besessen als der Preuße  – nie in die Archäologiegeschichte geschafft haben.

Wie eben jener Frank Calvert, der als Erster an der Stelle grub, wo Schliemann später den Schatz des Priamos aus dem Boden hob. Weil ihm als Laien staatliche finanzielle Unterstützung versagt blieb, machte letztendlich der vermögende Deutsche das Rennen um Ruhm und Ehre. Für Calvert blieben, wie Hein betont, nur »zwei schmallippige […] Fußnoten«, obwohl er Schliemanns Fantasie zuerst stimuliert und ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – seinen zukünftigen Weg gewiesen hatte.

Wie es auch gewesen sein könnte

Genau 25 Erzählungen der klassisch-griechischen Antike hat Christoph Hein sich ausgesucht. Scheinbar dicht an den Originalen und in gediegen väterlichem Ton berichtet er von historisch Undatiertem, indem er es nicht als aus der Zeit Gefallenes behandelt, sondern ganz dicht an unsere Gegenwart heranholt. Da ziehen dann plötzlich Touristenströme durchs vorchristliche Attika, mit Tropo wird der weltweit erste Wirtschaftsweise ausgerechnet auf griechischem Boden tätig und das spätere Schicksal der schönen Helena, um derentwillen der Trojanische Krieg entbrennt, ähnelt frappierend dem der einsamen Marlene Dietrich in ihrer Pariser Wohnung.

Und überhaupt: Dieser mehr als ein Jahrzehnt lange Krieg der vereinten griechischen Stämme gegen das den Zugang zum Schwarzen Meer kontrollierende Troja, jene mythische Belagerung, die so viele Opfer kostete und erst mittels eines Holzpferds, das den Tod in seinen Eingeweiden trug, beendet wurde – all das Gemetzel und die fast lebenslange Trennung von den zu Hause zurückgelassenen Kindern und Frauen nur deshalb, um die Ehre eines Einzelnen wiederherzustellen und dessen geraubte Gattin zurückzuerobern?

Schön wär’s, sagt Christoph Hein, doch hinter dem, was der Mythos berichtet, verbargen sich ganz andere Interessen. Um die Eroberung eines geopolitisch wichtigen Punktes ging es, um Raffgier und Expansionismus. Gold, Silber, Eisen und Zinnober, Schiffsholz, Leinen, Öl und Gewürze standen auf dem Spiel, Reichtum, Macht und Ansehen, die in den Händen der Troer lagen. Nicht Helena, sondern die Kontrolle über die östlichen Handelsrouten stand in Wahrheit auf dem Spiel. Doch konnte man das sagen?

In der letzten Erzählung des kleinen Bändchens sagt es einer, nämlich Homer. Odysseus hat den berühmten Poeten nach seiner Rückkunft aus dem Krieg an seinen Hof geladen und um sich die überlebenden Helden des Feldzugs versammelt. Vor ihnen soll der blinde Sänger die Verse vortragen, mit denen er auftragsgemäß das Tun der Griechen im Krieg und die gefährliche Rückfahrt der Heroen zu protokollieren hatte. Allein das, was die versammelten Krieger zu hören bekommen, ist ihnen zu prosaisch.

Odysseus selbst bringt es auf den Punkt: »Es sind schöne Lieder, nette Gesänge, kunstfertig und edel, ganz gewiss, aber du verfälschst die Wahrheit. Wir sind nicht nach Troja gezogen, weil es eine reiche Stadt war […] Nein, Homer, es ging um die Ehre der Achaier, […], um den Raub der schönen Helena […] Um der Ehre willen, Homer, nicht wegen der Reichtümer. Dass uns diese zugefallen sind, nun, das ergab sich und ist nicht erwähnenswert.« Worauf man den Blinden in Ithaka festsetzt und zwingt, eine neue Variante seines Heldenlieds zu schreiben – eben jene zwei Bücher, die man noch heute unter den Titeln Ilias und Odyssee kennt. Das ursprüngliche Buch aber, in dem sich die Wahrheit über den Trojanischen Krieg findet, versteckt der Sänger, nachdem Odysseus ihn aus seiner Gesellschaft entlassen hat.

Korrekturen an der Vergangenheit haben auch Auswirkungen auf die Gegenwart

Vor der Zeit ist keine Aufbereitung des klasssischen Mythenschatzes für zeitgenössische Leser, wie sie seit Gustav Schwab (1838 bis 1840 drei Bände unter dem Titel Die schönsten Sagen des klassischen Altertums) gang und gäbe ist. Wer sich auf dem Olymp schon etwas auskennt, wird zweifellos mehr Genuss beim Lesen der Heinschen Variationen haben. Neulingen auf dem Berg der Götter ist hingegen zu empfehlen, den einen oder anderen Seitenblick in ein seriöses Werk zur griechischen Mythologie zu werfen – etwa in die nie veraltende Griechische Mythologie von Robert von Ranke-Graves.

Aber auch gänzlich Unvorbelastete, die sich voller Abenteuerlust auf Heins Geschichten werfen, werden ihren Spaß haben. Ja vielleicht erschließt sich Letzteren sogar am schnellsten, was für ein bis heute gültiges Potenzial in diesen jahrtausendealten Erzählungen steckt.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Christoph Hein: Vor der Zeit. Korrekturen
Berlin: Insel Verlag 2013
189 Seiten. 19,95 Euro

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