Heiligenfigur und Nervensäge

Roman | John Maxwell Coetzee: Die Kindheit Jesu

Die Kindheit Jesu – der neue Roman von Nobelpreisträger J.M. Coetzee. Von PETER MOHR

jesu
»Vergessen braucht Zeit. Wenn du erst einmal richtig vergessen hast, wird dein Gefühl der Unsicherheit weichen und alles wird einfacher werden«, heißt es im neuen Roman des Literaturnobelpreisträgers John Maxwell Coetzee. So kurz und doch präzise lässt sich das neue Erzählwerk des seit über zehn Jahren in Australien lebenden Südafrikaners charakterisieren.

Ein Mann und ein Kind kommen nach einer langen Schiffsüberfahrt in einem fremden Land an, in dem Spanisch gesprochen wird und die Uhren etwas anders ticken. Hier gibt es eine knapp bemessene Grundversorgung, Luxus ist ebenso verpönt wie allzu starke menschliche Gefühle. Alle leben im Hier und Jetzt, losgelöst von der Vergangenheit.

Simón, der männliche Protagonist, erhält nach Durchlaufen eines Flüchtlingslagers und eines grotesk geschilderten Bürokratieapparates einen schlecht bezahlten Job im Hafen. Er kümmert sich rührend um den kleinen David, der nicht sein Sohn ist und der vermutlich seine leiblichen Eltern bei der Schifffahrt verloren hat.

Als Coetzee 2003 den Nobelpreis erhielt, wurde in der Stockholmer Begründung die »verschlagene Komposition seiner Bücher, der verdichtete Dialog und seine analytische Brillanz« gerühmt. Und all dem setzt er in seinem neuen Roman Die Kindheit Jesu noch einmal die Krone auf. Es ist eine anspielungsreiche Parabel um ein hochbegabtes, vorlautes Kind, das zwischen Nervensäge und Heiligenfigur changiert und uns vom Buchcover im zeitgenössisch-coolen, ein wenig an Batmann erinnernden Look mit starrer Miene anschaut. Jesus wird in Coetzees Roman übrigens nicht einmal erwähnt, stattdessen gibt es permanente Querverweise auf Don Quichotte.

Dieser David sucht seine leibliche Mutter, ist aufgeweckt, altklug und dickköpfig und bedient sich einer seltsamen Geheimsprache. Er ist kein Engel im religiösen Sinne, aber doch scheint er aus einer anderen Hemisphäre zu stammen. »Rettungsschwimmer« und »Entfesselungskünstler« sind seine Berufswünsche, und in einer seltsamen Mischung aus Sendungsbewusstsein und kindlicher Unbefangenheit verkündet er: »Ich bin die Wahrheit.«

In jenem Ort Novilla, der Züge eines postsozialistischen Paradieses trägt, leben die Menschen ohne Vergangenheit, sind »reingewaschen« von Erinnerungen durch die Fahrt über einen Ozean des Vergessens. Das Wasser hat offensichtlich alles geschluckt. Abends besuchen sie in einem volkshochschulähnlichen »Institut« philosophisch angehauchte Veranstaltungen über Stressmanagement und Psychotherapie. Vor allem die neuen Medien haben hier noch keinen Einzug gehalten, Nachrichten haben in einer vergangenheitslosen Gesellschaft keinen Wert. »Oh‘, meinte Álvaro, ,geschieht etwas?‘«

Der 73-jährige JM Coetzee rüttelt sanft an unseren verinnerlichten Alltagsgewohnheiten und hat ein völlig entschleunigtes, merkwürdig fremd wirkendes Leben in Novilla inszeniert. Fremd auch deswegen, weil sich die zwischenmenschlichen Beziehungen alle samt auf einem kühl-kollegialen Niveau bewegen. Der männliche Protagonist Simón freundet sich mit seiner Nachbarin Elena an, die einen Sohn in Davids Alter hat. Sie werden gar intim, aber es ist eine seltsam-leidenschaftslose Partnerschaft. Sympathie ja – Begehren nein, das Wort »Freundschaft« gewinnt hier eine ganz neue Qualität.

»Du hast dich entschieden, diesem Etwas-Mehr, das fehlt, den Namen Leidenschaft zu geben. Aber ich wette darauf, wenn dir morgen alle Leidenschaft, die du dir gewünscht hast, geboten würde – Leidenschaft im Überfluss –, würdest du prompt etwas Neues finden, das fehlt, das nicht vorhanden ist«, erklärt Elena.

Der Alltag in Novilla scheint völlig durch idealisiert zu sein: gutes tun und Verzicht üben sind fundamentale Tugenden. Auch für Inés, die für David auserkorene Ersatzmutter, die sich mit großer Begeisterung ihrer neuen, ihr plötzlich aufgebürdeten Aufgabe stellt.

Die Kindheit Jesu konfrontiert uns mit zwei Figuren, die auf unterschiedliche Weise unangepasst und nicht assimilationsbereit oder –fähig sind. David eckt in der Schule permanent an, und Simón bleibt ein Fremdling im Novilla-Alltag. Zwischen allegorischer Heiligenerzählung, dystopischer Parabel, fantasievollem Kafka-Märchen und absurd-nihilistischer Beckett-Prosa bewegt sich dieses erzählerische Meisterwerk. Formal anspielungsreich und zugleich tiefsinnig-nachdenklich. Wer John Maxwell Coetzee bisher noch nicht kannte, sollte jetzt unbedingt zugreifen.

| PETER MOHR

Titelangaben:
John Maxwell Coetzee: Die Kindheit Jesu
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2013
351 Seiten. 21,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Alle Jahre wieder…

Nächster Artikel

Den Atem verschlagen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Verschwundene Kinder

Roman | Vera Buck: Das Baumhaus

Mit ihrem für den Friedrich-Glauser-Preis nominierten Thrillerdebüt Wolfskinder hat die in Nordrhein-Westfalen geborene und heute in der Schweiz lebende Vera Buck 2023 nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht. Nun folgt mit Das Baumhaus jener Roman, der nach Ansicht vieler immer der ungleich schwerere ist, Nummer 2 nämlich. Und um es gleich vorwegzunehmen: Auch Bucks neues Buch lebt bis auf ein paar verwirrende Momente gegen Schluss von einer spannenden, routiniert erzählten Geschichte, die ihre Leserinnen und Leser diesmal mitnimmt ins schwedische Västernorrland, eine riesige, von undurchdringlichen Wäldern und schroffen Steilküsten geprägte Gegend. Und hier, in der »letzten europäischen Wildnis«, wie der Roman es ausdrückt, gut 500 Kilometer nördlich von Stockholm, lässt Vera Buck es zur tödlichen Konfrontation ihrer Figuren mit den Schatten der eigenen Vergangenheit kommen. Von DIETMAR JACOBSEN

Feinmechanikerin der Literatur

Roman | Zum Geburtstag der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer am 29. Dezember »Mir scheint ein großes Problem unserer Gegenwart zu sein, dass man mit so viel Sachen konfrontiert wird, mit so viel Menschen, und nicht nachkommt, wie wir es vielleicht eigentlich möchten, wirklich anteilnehmend diesen zum Teil auch Katastrophen gegenüberzustehen«, erklärte die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einem Interview vor zwei Jahren. Da war gerade ihr bisher letzter Roman Gewäsch und Gewimmel erschienen. Ein gewaltiges Opus von 600 Seiten, das uns eine völlig neue Facette der Autorin offenbarte, denn so humorvoll und unangestrengt wie in diesem Roman waren wir Brigitte Kronauer zuvor

Literatur – ein Spiel

Roman | Hartmuth Malorny: Begegnung in Turin In Hartmuth Malornys neuem Roman Begegnung in Turin tut sich eine recht tiefgründige – vielleicht sogar abgründig zu nennende – Szenerie auf, die zunächst sehr harmlos angelegt ist und sogar beinahe romantisch. Zwei Menschen beginnen hier ein völlig harmloses »Duett«. Aus sicherer zeitlicher Distanz erzählt uns der Autor dabei ein durchaus glaubwürdiges Erlebnis aus seinem Leben, von seiner Liebe zu Italien, dem dolce far niente und eben – wie könnte es in einem Roman anders sein – von einer Frau. Gelesen von HUBERT HOLZMANN

Idylle negativ

Roman | Juli Zeh: Unterleuten Sie hätte schon immer einen großen Gesellschaftsroman schreiben wollen, hat Juli Zeh jüngst verlauten lassen. Mit ›Unterleuten‹ hat sie sich diesen Wunsch jetzt erfüllt. Obwohl das Buch in der brandenburgischen Provinz spielt, da, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen. Seine Helden sind deshalb auch nicht die Entscheider unser aller Zukunft, sondern die kleinen Leute, die mit dem andernorts Entschiedenen zu leben haben. Von denen aber fährt Zehs Roman eine ganze Palette an unterschiedlichen Charakteren auf – nicht immer vollständig klischeefrei, aber durchaus tauglich, die Widersprüche unserer Zeit und Gesellschaft sichtbar zu machen. Von

Sch’majas Traum

Roman | Jim Shepard: Aron und der König der Kinder Jim Shepard ist es gelungen, einen bedrückenden und anrührenden Bildungsroman inmitten des Grauen und der Wirren des Warschauer Ghettos zu platzieren. In Aron und der König der Kinder versucht der Simpel Aron alias Sch’maja in der furchtbaren Zeit der Deportation zu überleben und seine Familie zu schützen. Natürlich gelingt ihm beides nicht. VIOLA STOCKER las einen Roman über Menschwerdung in der Hölle.