Die Romane der Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout zeichnen sich durch Herzenswärme und Lebensklugheit aus. In Oh, William! finden zwei ehemalige Ehepartner nach Jahrzehnten der Verletzungen und Unwägbarkeiten zur alten Vertrautheit zurück. Nicht zuletzt angesichts eines Roadtrips durch Maine, der auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Doch nicht nur die Protagonistin Lucy erkennt: »Wie typisch für das Leben: Über vieles werden wir uns erst klar, wenn es zu spät ist.« Von INGEBORG JAISER
Manche Lektüre fühlt sich wie ein weiches, kuschliges Plumeau an oder wie eine heiße Tasse Tee nach einem langen Spaziergang durch die Kälte: wärmend, tröstlich, aufbauend. Elizabeth Strouts achter Roman Oh, William! ist ein solcher Fall. Die Autorin hat ihn ihrem Ehemann gewidmet. »Aber geschrieben ist es für alle, die es vielleicht brauchen können«. Dafür muss man nicht einmal an Bibliotherapie glauben.
Elizabeth-Strout-Fans werden die Romanfigur Lucy Barton bereits aus früheren Werken kennen, aus Die Unvollkommenheit der Liebe (2016) und Alles ist möglich (2018). Jene Lucy Barton, die aus unfassbar ärmlichen Verhältnissen stammt, in einer Garage im ländlichen Illinois aufgewachsen ist und sich scheu, vorsichtig und unter immensen Schwierigkeiten den Weg in ein Leben als Schriftstellerin bahnt. Über weite Strecken eher als randständige Beobachterin denn als selbstbewusste Akteurin, lange an ihrer Unbeholfenheit und Unwissenheit leidend. Selbst als arrivierte Autorin auf Lesereise beschleicht sie der leise Verdacht, nicht gesehen, nicht wahrgenommen zu werden. Wird sie noch immer von den Dämonen der Vergangenheit gelähmt?
Reise durch Maine
Am ehesten Halt findet sie an der Seite ihres Ex-Ehemanns William, der in Wirklichkeit genauso verstört durchs Leben strauchelt wie sie. Zusammen stolpern sie wie Hänsel und Gretel durch den dunklen Wald. Nach Jahrzehnten der Irrungen und Wirrungen – und zahlreichen Affären, wie wir zwischendurch erfahren – wird William von seiner dritten Ehefrau verlassen, ein Jahr nachdem Lucys zweiter Ehemann verstorben ist. Es scheint, als ob die Trauer auf beiden Seiten, so verschiedenartig sie auch sein mag (»Ist dies hier ein Wettbewerb?«), die alte Verbundenheit und Vertrautheit wieder aufleben lässt. Da man die Eigenarten und Spleens des anderen nur zu gut kennt, kann ihnen inzwischen mit Milde und Mitgefühl begegnet werden.
Als William den Link zu einer Ahnenforschungs-Website erhält und entdeckt, dass seine Mutter ein zweites Leben und er selbst noch eine Halbschwester namens Lois Bubar hat, sucht er aufgewühlt Hilfe bei Lucy. Gemeinsam – immer noch »ein gutes Gespann« – reisen sie nach Maine, auf der Suche nach Lois, aber auch auf den Spuren der Vergangenheit. Heimat, Familie und sozialer Status werden zu heiklen Themen. Manche Menschen scheinen sich einfach davon lösen zu können, während andere, wie Lucy, »ein Leben lang der schwache Geruch ihrer Herkunft umgibt«.
Rückblicke und Lebensbilanz
Abgesehen von einer typisch amerikanischen Roadnovel, die allerdings erst nach der Hälfte des Buches richtig Fahrt aufnimmt, begegnet uns keine lineare Erzählung, eher ein assoziatives Mosaik von kurzen Episoden und Momentaufnahmen, Erinnerungen, Gedankensplittern. Nur unterbrochen von leisen Seufzern, wie in einem selbstvergessenen Monolog oder einem vertraulichen Gespräch unter Freunden. »Ich muss noch etwas über meinen Mann sagen, William«, beginnt dieser Roman. Und immer wieder wird die Aufmerksamkeit des Lesers heraufbeschworen, mit Ausführungen wie »eins muss ich noch ergänzen«, »worum es mir hier geht« oder »was ich nur sagen will«. Als säße uns die Erzählerin gerade gegenüber.
Auch wenn Bezüge zu den vorhergehenden Romanen hergestellt werden, ist ihre Lektüre nicht zwingend erforderlich, ergänzt aber wie mit kleinen Puzzlesteinchen den Gedanken- und Lebenskosmos der Protagonisten. Elizabeth Strout zeichnet ihre Figuren präzise und facettenreich, doch stets mit Anteilnahme und Wärme. Sie lässt ihnen Raum für Untertöne und vage Gefühle, wie Ahnungen, Visionen, Alpträume. Irgendwann werden alle von den verdrängten Halbwahrheiten eingeholt und auf sich selbst zurückgeworfen. Oder wie es Lucy formuliert: »Wir kennen uns selbst besser, als uns das bewusst ist.« Letztendlich macht es keinen Unterschied, ob man die Geschehnisse jammernd oder eher klaglos erträgt, denn »was für eine Wahl haben die meisten von uns, als es durchzustehen?«
Titelangaben
Elizabeth Strout: Oh, William!
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
München: Luchterhand 2021
221 Seiten, 20 Euro
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