Vom elitären Stammler zum Plothuber

Roman | Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel

Gewäsch und Gewimmel – der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer. Eine Besprechung von PETER MOHR

49e3dc4ae2d641b713e3757838dd2befada5a404
»Mir scheint ein großes Problem unserer Gegenwart zu sein, dass man mit so viel Sachen konfrontiert wird, mit so viel Menschen, und nicht nachkommt, wie wir es vielleicht eigentlich möchten, wirklich anteilnehmend diesen zum Teil auch Katastrophen gegenüberzustehen«, erklärte kürzlich die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einem Interview.

Mit unendlich vielen Menschen, kleinen und großen Katastrophen, herzzerreißenden Anekdoten und vordergründig banalen Alltagsbegebenheiten konfrontiert die Georg-Büchner-Preisträgerin die Leser in ihrem neuen opulenten Roman. Die inzwischen 73-jährige Brigitte Kronauer, die seit vielen Jahren in Hamburg lebt und dieser Stadt und ihrem Umfeld im Roman Teufelsbrück (2000) ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt hat, arbeitet wie mit einem literarischen Weitwinkel – ganz nah heran ans Geschehen und mit viel Tiefenschärfe ein breites Spektrum ablichten. Jede auf den ersten Blick nebensächlich erscheinende Veränderung in den Figurenkonstellationen, jede noch so winzige Regung in der Natur wird mit großer Präzision registriert.

Im Mittelpunkt des Romans steht die »Krankentherapeutin« Elsa Grundlach. Sie hält die Fäden zusammen und fungiert als eine Art Bindeglied im gigantischen Figurenensemble. Die Handlung besteht aus drei Teilen. Zu Beginn begegnen wir Elsas Kunden (oder besser: Patienten), die sich der magischen Hände der rothaarigen Frau anvertrauen. Halb Engel, halb Hexe wirkt die Therapeutin Elsa wie ein zauberndes Wesen aus einem modernen Märchen. Den umfangreichen Mittelteil bestreiten Elsa und Luise Wäns auf ihren ausgedehnten Spaziergängen. Luise Wäns hat die Siebzig überschritten und ist »die Mutter der mürrischen Bankbeamtin Sabine«, mit der sie um die Gunst der Männer konkurriert.

Auf den Spaziergängen durch die Natur wird aus einer Art doppelten Beobachterposition Hans Scheffer, ein in Ehren ergrauter Casanova, in die Handlung integriert. Scheffer ist engagierter Hüter eines Naturschutzgebietes und unumstrittener Mittelpunkt eines skurrilen Freundeskreises, der sich regelmäßig bei Luise Wäns trifft.

Daraus entsteht dann der berühmt-berüchtigte Beziehungstratsch, ein für Brigitte Kronauer völlig ungewohntes Sujet, dem sie sich aber offensichtlich mit großer Begeisterung hingibt. In ihrer Figuren- und Beziehungscollage wirkt alles ein wenig altmodisch, es werden noch Briefe geschrieben, bei Kronauer gibt es (beinahe selbstverständlich) immer wieder Anspielungen auf die Literaturgeschichte, malerische Naturbeschreibungen, hier wird unendlich viel geredet, der Tratsch hat Stil, und selbst die niederträchtigste Lästerei geschieht immer mit einer gewissen Contenance.

Das Gros der Figuren scheint im tiefsten Innern mit sich und der Welt zu hadern: »Jeden Morgen, sagt sich die Krankentherapeutin Elsa, masert, mustert, zerstückelt mich die verfluchte Zeitung und will für den Resttag mich und meine Patienten erledigen.«

Ob der Pfarrer Dillenburg, der Hundeliebhaber Brück, dessen geliebter Hund Rex das Zeitliche segnet, der Wanderer Wind, der Komponist Keller oder die mannstolle Katja – sie alle scheinen sich permanent zu verstellen, sich selbst zu verleugnen, um anderen zu gefallen. So lässt Kronauer die Therapeutin Gundlach über Luise Wäns befinden: »Sie benutzt dauernd die Wörter ‚entzückend‘ und ‚ reizend‘, wenn sie über Menschen spricht. Ich habe das Gefühl, sie würde viel lieber ‚Scheusal‘ und ‚Ungeheuer‘ sagen. Vielleicht möchte sie sich vorstellen, sie wäre ein guter statt ein boshafter Mensch?«

Aus dem gewaltigen Figurengewimmel, mit dem der Roman schließt, ragen immer wieder solch scharfsinnige Sätze heraus, die dem vermeintlich oberflächlichen Gewäsch dann doch die sezierende kronauer-typische Tiefe verleihen. Neid, Eifersucht, Lügen – die ganze Bandbreite der kleinen menschlichen Schwächen wird in diesem polyphonen Soziogramm mit großer Verve entlarvt. Und wenn Brigitte Kronauer über den erfolgreichen Schriftsteller Pratz, eine ihre Nebenfiguren, befindet, dass er sich vom »elitären Stammler zum Plothuber« gewandelt habe, dann darf man dahinter auch ein ironisches, mit einem Augenzwinkern versehenes Selbstbekenntnis vermuten. So humorvoll und unangestrengt wie in ihrem neuen Roman war Brigitte Kronauer nämlich noch nie zuvor.

| PETER MOHR

Titelangaben
Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2013
612 Seiten. 26,95 Euro

Reinschauen
Leseprobe
Brigitte Kronauer in TITEL-Kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rätsel und Komplotte allüberall

Nächster Artikel

Bekenntnisse eines Hochstaplers

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Geheimdienste in der Sinnkrise

Roman | John le Carré: Silverview

Am 12. Dezember 2020 verstarb mit John le Carré der Schriftsteller, dessen Name wohl am engsten mit der Geschichte des Spionagethrillers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Ob Kalter Krieg, Globalisierung, internationaler Terrorismus oder Systemwandel nach 1989/90 – John le Carrés Romane suchten immer eine Antwort auf die Zeit, in der sie entstanden. Nun ist mit Silverview ein letztes Buch aus dem Nachlass des Mannes erschienen, dessen Werken nicht nur eine zeitpolitische, sondern auch eine literarische Bedeutung zukommt. Noch einmal wird darin über die Beschreibung einer verhängnisvollen Konfrontation die Aufmerksamkeit auf brisante Fragen unserer Gegenwart gelenkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Liebe unter staatlicher Kontrolle

Roman | Ines Geipel: Tochter des Diktators Ein abgelegenes Dorf in der Toskana, Berlin, Moskau, Leningrad und Paris sind die Handlungsorte in Ines Geipels erzählerischer Abrechnung ›Tochter des Diktators‹ mit den zerstörerischen, menschenverachtenden Mechanismen des Staatskommunismus. Die Autorin, 1960 in Dresden geboren, weiß, wovon sie schreibt. Von PETER MOHR

An der französischen Atlantikküste

Porträt | Interview mit Jean-Philippe Blondel über seinen Roman ›Direkter Zugang zum Strand‹ Mit ›6 Uhr 41‹ gelang dem französischen Schriftsteller Jean-Philippe Blondel hierzulande ein Bestsellererfolg. Sein zweiter ins Deutsche übersetzte Roman ›Direkter Zugang zum Strand‹ ist wie ein Puzzle, das sich vor dem Hintergrund des Meers entfaltet. BETTINA GUTIÉRREZ hat ihn hierzu befragt.

Korruption am Kap

Roman | Paul Mendelson: Die Straße ins Dunkel Südafrikanische Thriller sind im Laufe des letzten Jahrzehnts in den Fokus auch der deutschen Leser gerückt. Autoren wie Deon Meyer, Mike Nicol, Malla Nunn, Andrew Brown oder Roger Smith erzählen mit ihren Büchern Geschichten aus einem Land im Umbruch.Von DIETMAR JACOBSEN

Nur die Hand halten

Kurzprosa | Melitta Breznik: Mutter

»Als sie mir sagte, sie könne das Bett kaum mehr verlassen, machte ich mich ohne weiteres Zögern auf den Weg hierher«, heißt es in Melitta Brezniks schmalem Abschiedsbuch Mutter. Die Mutter hat die neunzig überschritten und ist unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Über die letzten sieben Lebenswochen, in denen sich Mutter und Tochter sehr nahe kamen, aber oft auch völlig fremd fühlten, berichtet die 59-jährige, in der Steiermark geborene und seit vielen Jahren in der Schweiz lebende Melitta Breznik. Von PETER MOHR