straßbesetzt

Kurzgeschichte | Jürgen Landt: straßbesetzt

angela merkel hatte sich in mich verliebt. der wahlkampf war schon zu ende. dennoch standen genügend öffentliche auftritte an. manchmal hielt ich mich etwas abseits, oftmals war ich direkt an ihrer seite. oftmals trug ich mein langes gelichtetes weißes haar mit einer klammer zusammengekniffen, manchmal ließ ich es einfach offen hängen. einmal verlor ich einen meiner mit straß verzierten straßenschuhe und fand ihn einfach nicht wieder. sie zeigte mir in einer vermölten halle rumliegende schuhe und ich mußte sie mit meinem einzelnen noch vorhandenen vergleichen, fand auch immer wieder zwei zusammenpassende, auch die straßmuster paßten überein, nur waren sie ständig in ihrer größe, und den passenden zweiten zu meinem noch vorhandenen fand ich nicht. und nie paßte das straßperlenmuster der gefundenen paar schuhe mit dem straßmuster meines noch an mir steckenden schuhs überein. irgendwann war es mir egal und ich lief mit nur einem schuh an ihrer seite. sie küßte mich. und oftmals schmuste sie mich, unverhofft und überraschend, einfach nur an, rieb ihre wange an meiner und mehr.
obwohl der wahlkampf vorbei war besuchten wir eine familie, na ja, wie politiker es manchmal so in protokollierter bürgernähe tun, ich war mit dabei, und angela merkel und ich warfen auch einen blick ins kinderzimmer. das kinderzimmer der familie war nicht aufgeräumt und ich sagte: »endlich mal ein kinderzimmer, das nicht aufgeräumt ist!« ich sagte es richtig voller freude, und das einzige wesen, das sich mitfreute, war das kind, das in dem zimmer lebte. es klatschte beifall, richtigen stürmischen applaus, wie es sonst nur anhänger zu parolen des politikers auf einer wahlveranstaltung tun oder rumstehende parteimitglieder bei einer gewonnenen wahl.
ansonsten hielten sich die menschen bedeckt, wenn sie mich an der seite von angela merkel sahen, und irgendwie hatte sich auch herumgesprochen, daß frau merkel sich in mich verliebt hatte. ich sagte noch zu ihr: »wenn die das schon vor dem wahlkampf gewußt hätten, wärst du nicht noch einmal kanzlerin geworden. und daß das jetzt deine letzte amtszeit ist, das weißt du auch.« doch sie schmuste sich noch mehr an mich an, schmuste ganz zart und weich ihre wange an meine, rieb sich an meiner wange, dann an meinem hals, auch mit ihrer wange, liebevoll und zart. und dann kamen wir gemeinsam in ihrem unablässigen schmusen an obdachlosen vorbei und einer von ihnen bot uns die hälfte seiner bratwurst an. doch ich schreckte davor zurück ihm eine halbe wurst wegzuessen, auch wenn es gut von ihm gemeint und herzlich war, sein abgeben, sein mit uns teilen wollen, hatte er doch selber nichts. ich brachte es nicht übers herz, und ich schämte mich, bedankte mich immer wieder verneinend, sagte ihm wie gut und liebenswürdig es von ihm sei, aber ich konnte mich nicht überwinden, ihm die halbe wurst wegzuessen. doch angela merkel sprang ein, drängte mich etwas zur seite, schnitt die wurst des obdachlosen unversehens blitzschnell in drei teile, die wir dann gemeinsam mit ihm aßen. und dann fing sie wieder an zu schmusen, schmuste sich mehr und mehr an mich ran, ihre wange an meiner reibend, noch mehr und noch mehr, bevor ich in einem grinsen erwachte.
über zehn jahre war ich mit keinem grinsen mehr erwacht. fünf jahre lang hatte ich unter morgendlichem kopfschmerz und dem grauen im wahrnehmen eines neuen tages nicht mehr gelacht. was war das denn nun für ein traum? wo und wie sollte ich ihn für mich einordnen? unter einem albtraum tat ich es nicht. unter einem wie-schade-traum auch nicht. ich steckte ihn in einen verdienst-traum. ich hatte ihn mir unter all der fünfjährigen psychiatriescheiße und den qualen der depression verdient.

zehn wochen später zeigte mir das fernsehprogramm an einem abend aufnahmen mit frau merkel. während des drehs zu einer folge der Promi-Shopping Queen lief sie zufällig dem tv-team vor die linse, als sie an der kasse eines feinkostgeschäftes auftauchte, in gleichgültiger miene geduldig wartete und dann nichts weiter als zwei gläser senf kaufte.
und in der zeitung stand es anfang dezember auch, sogar mit einem foto dazu, welches frau merkel konzentriert und aufmerksam beim bezahlen und empfangen des wechselgeldes an der kasse zeigte. nur daß die zeitung nicht den senf erwähnte und auch nicht, daß die kanzlerin nichts anderes eingekauft hatte, nur diese beiden gläser senf.

| landt

zum Autor
Jürgen Landt, 1957 in Vorpommern geboren, lebt zur Zeit in Greifswald

Letzte Veröffentlichungen
Letzter Stock im Feuer (Kurzgeschichten) ‚freiraum-verlag‘, 2014
alles ist noch zu begreifen (Kurzgeschichten und Type-Art’s) ‚freiraum-verlag‘, 2012
Realität ist Zauberwald (Kurzgeschichten) Bench Press Publishing, 2008
Der Sonnenküsser (Roman) Edition M, 2007, 2. Auflage 2009

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