Türkische Literatur zwischen Tradition und Moderne

Roman | Hakan Günday: Extrem | Alper Canigüz: Die Verwandlung des Hector Berlioz | Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus

Fantasievoll, ausdrucksstark und facettenreich präsentierte sich auf der Litcologne eine junge türkische Literaturszene, die nicht nur dem Mainstream folgt. Drei Autoren stellten ihre neuen Romane vor – Hakan Günday: Extrem, Alper Canigüz: Die Verwandlung des Hector Berlioz und Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus. Von BETTINA GUTIÉRREZ
Extrem von Hakan Guenday
Wer sich für zeitgenössische türkische Literatur interessiert, der konnte sich im Rahmen einer von der Litcologne organisierten Lesung von deren Originalität und literarischen Vielfalt überzeugen. Drei Schriftsteller stellten dort ihre erstmals ins Deutsche übertragenen Romane vor.

Hakan Günday, der in seinem Heimatland als Kultautor gilt, schildert in seinem Roman Extrem die Lebenswege seiner Protagonisten Derdâ und Derda, die sich als Kinder auf einem Friedhof begegnen und schließlich nach vierzig Jahren zusammenfinden.

Drastisch, heftig und teils überzeichnend sind die Szenen aus Derdâs Leben, die mit elf Jahren an einen türkischen Geschäftsmann verkauft wird, fünf von Gewalt geprägte Jahre mit ihm in London verbringt, dann zur heroinabhängigen Punkerin mutiert um in einer Entzugsklinik auf ihre künftige Adoptivmutter zu treffen, die ihr ein Studium der englischen Literatur ermöglicht. Auch Derdas Schicksal ist nicht minder grausam: Wegen seiner unzähligen Gewaltverbrechen wird er zu zweiundzwanzig Jahren Haft verurteilt.
Gutierrez verwandlung-des-hector-bAlper Canigüz humoristische Komödie Die Verwandlung des Hector Berlioz kreist dagegen um einen Professor, der seine Studenten in Freuds Theorie der Traumdeutung einführt und den Lebenskünstler Hector Berlioz, der sich mit Hilfe seines Komplizen Hamit der Geldbeute des Gangsters Hayri Kura ermächtigen will. Leicht grotesk, mit dichten Dialogen angereichert ist hier die Handlung, die sich auf verschiedenen Erzählebenen abspielt und in einer großen Verwirrung mündet.

Gutierrez BoraliogluGaye Boralioglu erzählt  in Der hinkende Rhythmus wiederum die bewegende Geschichte des Romamädchens Güldane, die in den Vierteln Istanbuls rote Rosen und Narzissen verkauft und zu den Tamburinklängen ihres jüngeren Bruders Yunus tanzt. Als ihr Vater stirbt, werden sie von ihrer Mutter verlassen und müssen sich fortan ihren Lebensunterhalt alleine verdienen. Gleichzeitig ist dies aber auch die Geschichte der ungewöhnlichen Liebe zwischen Güldane und dem wesentlich älteren Halil, die im Laufe des Geschehens immer abgründigere Dimensionen annimmt und traurig endet.

So fantasievoll und interessant alle drei Romane auf ihre Art und Weise sind, so unterschiedlich und ganz anders wirkten im Vergleich hierzu jedoch ihre Autoren. In der sich an die Vorstellung ihrer Biographie und Lesung der jeweiligen Textpassagen anschließenden Diskussion zeigte sich Hakan Günday auf die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Gewalt eher verschlossen und ausweichend: »Es gibt viele Parallelen. In dem Moment, in dem ich beginne, eine Geschichte zu schreiben, ist sie der Herr, der mich durchprügelt. Ich komme mir häufig wie ein Knecht vor. Ich muss mich oft abmühen, um einen gelungenen Satz zu formulieren.«

Hakan Günday (C) btb
Hakan Günday (C) btb

Und eine Stunde später, die ihm, so Günday, die Gelegenheit gegeben habe, noch einmal über diese Frage nachzudenken fügte er hinzu: »In der Literatur ist man zugleich Meister und Sklave.« Auch das Thema der Vereinsamung, das er in seinem Roman streift, indem er Derda zweiundzwanzig Jahre alleine in einer Gefängniszelle verbringen lässt kommentierte er nur lakonisch. »Ob man vereinsamt oder nicht hängt von der Kommunikation ab.« Allerdings ließ er sich daraufhin noch zu einem Plädoyer für die Buchkultur und der Forderung nach einer Abkehr von der oberflächlichen Massenkommunikation, die vor allem von dem Fernsehen befördert werde, hinreißen.

Alper Canigüz (C) Murat Yilmaz
Alper Canigüz (C) Murat Yilmaz

Alper Canigüz wurde hingegen ein wenig konkreter, als es darum ging, zu erläutern, ob seine absurd anmutende Komödie eine philosophische oder gesellschaftliche Botschaft enthält: »Mit ging es vor allem um das Wirklichkeitsempfinden, das meist ein Problem darstellt. Ich habe Psychologie studiert und missbrauche sie zum Schreiben. Mir geht es darum, zu ergründen, was es mit dem Sichtbaren und Seltsamen auf sich hat. Das heißt, wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, was sieht dann die Person, die in Sie zurückschaut?«

Die Tatsache, dass er sich in seinem Buch mit Sigmund Freud befasst, erklärte er mit seiner Faszination für dessen Theorien: »Ich halte Freud für ein Genie, seine Lehren sind sehr tiefgründig und spannend. Sie sind ein Höhepunkt in der Geschichte der Psychologie, der so genannten Lehre von der Seele. Literatur macht nur dann Sinn, wenn man über etwas schreibt, das einen interessiert. Deshalb habe ich mich entschlossen, über dieses Thema zu schreiben.«

Gaye Boralioglu (C) Muhsin Akgün
Gaye Boralioglu (C) Muhsin Akgün

Im Gegensatz zu ihren beiden Schriftstellerkollegen wirkte Gaye Boralioglu im Gespräch über ihre Literatur deutlich offener und auskunftsfreudiger. So etwa als sie bekannte, dass sie sich beim Schreiben nach ihren Gefühlen richte und dass ihre Romanfiguren, wie auch sie selbst, weder der Vernunft noch einer bestimmten Logik folgten. »Der hinkende Rhythmus ist in der Türkei der Neunachtelrhythmus der Romamusik, in dem plötzlich ein Takt auftaucht, der die gesamte Ordnung zerstört und die Hörer verzaubert. Dieser Rhythmus verführt dazu, heiter und lustig zu sein, aber er kann auch tragisch und traurig sein, weil er einen Bruch darstellt. Mein Roman schildert eine Geschichte, in der plötzlich ein Bruch oder eine Wende eintritt. Wie in der Romamusik, wo zuerst alles nach dem regelmäßigen Takt läuft und dann der Bruch kommt.«

Ihre Motivation, einen Roman über die Roma zu schreiben begründete sie mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Türkei: »Der türkische Kapitalismus möchte alles erneuern. Das führt dazu, dass viele Menschen, wie auch meine Romanhelden, einfach zugrunde gerichtet werden. Ich wollte von Menschen erzählen, die durch diese Neuerungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.«

Am Ende dieses kurzweiligen Abends blieben, trotz der regen Diskussion, die sich zunehmend auf die derzeitige Situation der türkischen Politik und Gesellschaft konzentrierte, dennoch einige Fragen offen. Man hätte gerne gewusst, welche Aussage oder Sinn sich hinter Hakan Gündays Roman, der sicherlich nicht nur dem Mainstream und Kommerz verpflichtet ist, verbirgt. Oder, was Alper Canigüz überhaupt dazu bewegt hat, Bücher zu schreiben. Das ist schade.

| Bettina Gutiérrez

Literaturangaben:
Hakan Günday: Extrem
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
München: btb 2014
416 Seiten. 19,99 Euro

Alper Canigüz: Die Verwandlung des Hector Berlioz
Aus dem Türkischen von Monika Demirel
Berlin: binooki 2013
196 Seiten. 16,90 Euro

Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus
Aus dem Türkischen von Recai Hallaç
Berlin: binooki 2013
252 Seiten. 15,90 Euro

1 Comment

  1. […] “Fantasievoll, ausdrucksstark und facettentreich präsentierte sich auf der Litcologne eine junge türkische Literaturszene, die nicht nur dem Mainstream folgt. Drei Autoren stellten ihre neuen Romane vor – Hakan Günday: Extrem, Alper Canigüz: Die Verwandlung des Hector Berlioz und Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus.” Beitrag von BETTINA GUTIÉRREZ zu lesen im Titel – Kulturmagazin. […]

Schreibe einen Kommentar zu Türkische Literatur zwischen Tradition und Moderne | Blog TürkeiEuropaZentrum Hamburg Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Keller, Küche, Kapitalismus

Nächster Artikel

Mit Feuerball und Enterhaken

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Foul Play

Jugendbuch | Kerstin Gulden: Fair Play

Umweltschutz ist ein Thema, das uns alle angeht. Und die »Fridays-for-Future«-Bewegung hat gezeigt und zeigt, wie sehr sich viele junge Menschen damit auseinandersetzen und motiviert sind, etwas für das Klima und die Zukunft zu tun. Und an dieser Stelle beginnt der packende Roman von Kerstin Gulden. Von ANDREA WANNER

Das gallige Gelächter

Roman | Monika Maron: Artur Lanz

»Natürlich kann ich nicht sagen, mein Leben fängt erst 1990 an, aber es ordnet sich um einen anderen Mittelpunkt, und die Fragen stellen sich anders. Ich hätte ,Pawels Briefe' nicht schreiben können, solange es die DDR noch gab«, bekannte die Schriftstellerin Monika Maron, die im Rückblick auf ihr eigenes Leben von einer »gemischten Biografie« spricht. Deutsch-deutsche Grenzgänge im geografischen wie im politischen Sinn spiegelten sich nachhaltig im Werk der Kleist- und Hölderlin-Preisträgerin, die 1981 mit dem in der damaligen DDR verbotenen Roman Flugasche (1981) erstmals für Furore gesagt hatte. PETER MOHR hat Marons politisch durchaus brisanten Roman Artur Lanz für TITEL kulturmagazin gelesen.

Hast du keinen Kahn zur Hand, nimm den Bus

Roman | Alberto Manguel: Zwei Liebhaber des Schattens Die beiden so eben bei S. Fischer erschienen neuen Kurzromane – so der Autor – Zwei Liebhaber des Schattens von Alberto Manguel führen den Leser in die Dunkelkammer des Hades. Die Aufnahmen eines Fotografen als auch die Heimreise eines Südamerikaners verheißen nichts Gutes. Von HUBERT HOLZMANN

Leben vor den Toren des Paradieses

Roman | Laurent Gaudé: Hund 51

Zem Sparak ist Grieche. Aber Griechenland existiert nicht mehr in der Welt von morgen, wie sie der französische Autor Laurent Gaudé in seinem aktuellen Roman Hund 51 vor unseren Augen erstehen lässt. Überhaupt scheinen Länder ausgedient zu haben. Die neue Welt gehört Superkonzernen. Und die haben ihre Einflussgebiete in Zonen eingeteilt. GoldTex heißt der Konzern, für den Zem als Hilfspolizist in Zone 3 der Megastadt Magnapolis arbeitet. Als er in dieser Funktion eines Tages vor einer furchtbar zugerichteten Männerleiche steht, weiß er gleich, dass die Aufklärung dieses Verbrechens nicht in seine Zuständigkeit fällt. Und beginnt trotzdem, zusammen mit Kommissarin Salia Malberg aus Zone 2, das Geheimnis um den Toten zu lüften – ein Vorhaben, das die beiden aufeinander zu und bis an die Grenzen ihrer Loyalität zu denjenigen führt, die in ihrer Welt das Sagen haben. Von DIETMAR JACOBSEN

Menschen im Salon

Roman | Vicky Baum: Pariser Platz 13 Gut achtzig Jahre ist die »Helen-Bross-Methode« jetzt alt, aber wir sind noch immer kein bisschen weiser: Jugendwahn und Alterungsangst sind bis heute verlässliche Profitgeneratoren. Das wird einem schmerzhaft klar beim Lesen von Vicky Baums Komödie Pariser Platz 13, die der kleine, feine Berliner AvivA-Verlag jetzt mitsamt einigen ihrer Artikel und einem klugen Nachwort wieder veröffentlicht hat. Von PIEKE BIERMANN