Leben vor den Toren des Paradieses

Roman | Laurent Gaudé: Hund 51

Zem Sparak ist Grieche. Aber Griechenland existiert nicht mehr in der Welt von morgen, wie sie der französische Autor Laurent Gaudé in seinem aktuellen Roman Hund 51 vor unseren Augen erstehen lässt. Überhaupt scheinen Länder ausgedient zu haben. Die neue Welt gehört Superkonzernen. Und die haben ihre Einflussgebiete in Zonen eingeteilt. GoldTex heißt der Konzern, für den Zem als Hilfspolizist in Zone 3 der Megastadt Magnapolis arbeitet. Als er in dieser Funktion eines Tages vor einer furchtbar zugerichteten Männerleiche steht, weiß er gleich, dass die Aufklärung dieses Verbrechens nicht in seine Zuständigkeit fällt. Und beginnt trotzdem, zusammen mit Kommissarin Salia Malberg aus Zone 2, das Geheimnis um den Toten zu lüften – ein Vorhaben, das die beiden aufeinander zu und bis an die Grenzen ihrer Loyalität zu denjenigen führt, die in ihrer Welt das Sagen haben. Von DIETMAR JACOBSEN

So oft er Zeit findet, gönnt sich Zem Sparak ein paar Stunden in einem Dreamshop. Hier kann er sich mit Hilfe von Okios-Pillen in seine Vergangenheit zurückbeamen. Dann erscheinen sie wieder vor ihm, die Straßen und Plätze Athens, die Schönheit seiner damaligen Freundin Lena Farakis, aber auch die Szenen von dem Verrat, den er an seinen Freunden beging. Aber das alles ist Vergangenheit für ihn in einer Welt, in der die Rolle, die Nationalstaaten einst spielten, im Verschwinden begriffen ist. Stattdessen bestimmen multinationale Konzerne, wo es langgeht. Und fügen jene Länder per Kauf zu ihrem Portfolio dazu, die sich nicht mehr selbst zu finanzieren vermögen. Wie Sparaks Griechenland eben, für ihn nicht mehr als eine Erinnerung an bessere Zeiten.

Doch heute – in jener Zukunft also, in der Laurent Gaudés Roman spielt – gelten andere Gesetze. Zwei Superkonzerne – Goldtex und Moloch First – haben die Welt unter sich aufgeteilt. Zem Sparak, der »Hund 51«, lebt als Hilfspolizist in Zone 3 der Megastadt Magnapolis unter den wenig Privilegierten. Auf der sogenannten »Transitinsel« wurde über seine Zukunft entschieden, nachdem seine einstige Heimat nur noch als Müllkippe gut war. Als Polizist hat Zem unter anderem mit dafür zu sorgen, dass die illegalen Schleuseraktivitäten zwischen den Zonen nicht überhandnehmen. Von Zone 3 in Zone 2 zu kommen ist für ihn schwer, in Zone 1, wo Luxus herrscht und die Privilegierten seiner Welt wohnen, vollkommen unmöglich. Kein Wunder also, dass er, als er eines Tages vor einer aufgeschnittenen Leiche steht, warten muss, bis eine autorisierte Kommissarin aus Zone 2 erscheint, um den Fall zu übernehmen: Salia Malberg.

Die Superstadt der Zukunft

Laurent Gaudé, geboren 1972 in Paris, gilt in Frankreich als einer der herausragenden Autoren seiner Generation. Der Prix-Goncourt-Preisträger von 2004 – damals geehrt für seinen Roman Die Sonne der Scorta – hat sowohl mit seinen Theaterstücken als auch mit seinen erzählenden Werken in seiner Heimat immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt. Hund 51 (im Original Chien 51, 2022) wurde in Frankreich zum Bestseller und verkaufte sich auf Anhieb über 100.000 Mal.

Dass Malberg und Sparak mit ihren gemeinsamen Ermittlungen an Dinge würden rühren müssen, die in der Welt von Magnapolis lieber unter dem Teppich blieben, ist den beiden Ermittlern von Anfang ihrer Zusammenarbeit an bewusst. Und das jener Pamuk, dessen Leiche man als erste gefunden hat, etwas mit dem Rebellen John Mafram zu tun hatte, jenem Widerständler, der einst zur Direktionskommission von GoldTex gehörte, ehe er sich entschloss, gegen die schöne neue Welt aufzubegehren, ist auch schnell klar. Aber weshalb die Grausamkeit jener Mordtat? Und warum legt man den beiden Ermittlern bei ihrer Arbeit immer wieder Steine in den Weg?

Aufstieg über die »Große Lotterie«

Drei Zonen umfasst Magnapolis. Lebensbereiche, die deutlich voneinander abgegrenzt sind. So dass, wer in Zone 3 angesiedelt wurde, normalerweise nie die Chance bekommt, einen Blick in Zone 1 zu werfen, in der die Großkopferten jener Welt, diejenigen, die das Sagen haben, in luxuriösen Verhältnissen leben. Nur über einen Gewinn in der »Großen Lotterie«, die in regelmäßigen Abständen die Gemüter aller bewegt, scheint es möglich, seine Lebensumstände von einem Tag auf den anderen zu verbessern. Denn jeder Gewinner dieser Auslosungen wird unter enormer Anteilnahme der Medien in die nächsthöhere Zone übergesiedelt. Es winken ein besserer Job sowie deutlich angenehmere Lebensverhältnisse – der lang ersehnte Aufstieg in der sozialen Hierarchie.

Allein bei jenem in Zone 3 tot Aufgefundenem handelte es sich partout um einen jener glücklichen Lotteriegewinner. Was stimmt also nicht am Traum vom besseren Leben, den GoldTex den Gewinnern seiner Lotterie verspricht? Oder dient das von allen herbeigesehnte Ereignis vor allem dazu, auf ebenso billige wie heimtückische Weise an Versuchskaninchen heranzukommen, an denen man jene Eternytox-Implantate testen und verbessern kann, die den Auserwählten dieser Welt von morgen ein längeres und krankheitsfreies Leben garantieren sollen als allen anderen? Implantate, mit denen ein lukratives illegales Geschäft betrieben wird – denn wer möchte nicht 30 Jahre länger leben als die meisten seiner Mitbürger und in dieser Zeit weder von Herzinfarkten noch von Schlaganfällen bedroht werden?

Fragen an unser aller Gegenwart

Mit seinem geschickt arrangierten Mix aus Thriller und Dystopie gelingt es Laurent Gaudé, im Gewand einer in der Zukunft spielenden Geschichte dringliche Fragen unserer Gegenwart zu behandeln. Darf man zulassen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird? Braucht es mehr Kontrolle, damit die Megakonzerne dieser Welt bleiben, was sie eigentlich sind, nämlich Wirtschaftsunternehmen und keine politischen Akteure? Welche Aufgaben fallen in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt den Medien zu? Und wie kann man sich wehren gegen die Zumutungen, die der Siegeszug der Künstlichen Intelligenz mit sich bringt?

Laurent Gaudés Roman ist auch in der deutschen Übersetzung von Christian Kolb leicht und gut lesbar. Nur froh, was das Kommende betrifft, stimmt er seine Leserinnen und Leser nicht. Aber wer kann auch schon den Anbruch besserer Zeiten erwarten, wenn er die Gestaltung seines zukünftigen Lebens nicht in die eigenen Hände übernimmt?

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Laurent Gaudé: Hund 51
Aus dem Französischen von Christian Kolb
München: dtv 2023
334 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mut der Verzweiflung

Nächster Artikel

Zukunft

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Öl, Wasser, Luft in Ordnung?

Roman | Wolf Haas: Junger Mann Was treibt ein adipöser Zwölfjähriger zur Zeit der 1970er-Ölkrise im österreichischen Outback? ›Junger Mann‹ – der neueste Roman von Wolf Haas – trägt nicht die krude Kunstsprache und den skurrilen Stil der Brenner-Krimis, entpuppt sich jedoch als nostalgisch angehauchter Sommerroman mit reichlich Lokalkolorit. Erwärmt garantiert jeden eisigen Winterabend. Von INGEBORG JAISER

Zeit der Reue

Roman | Arnaldur Indriðason: Tiefe Schluchten

Zum dritten Mal macht sich Arnaldur Indriðasons pensionierter Polizist Konráð auf die Suche nach einem verschwundenen Menschen. Wie in den beiden Vorgängerromanen der Reihe - Verborgen im Gletscher (2017, deutsch 2019) und Das Mädchen an der Brücke (2018, deutsch 2020) – wird er auch diesmal von seiner Ex-Kollegin Marta unterstützt. Die ist meist wenig begeistert, wenn sich Konráð in ihre Arbeit einmischt. Doch weil sie diesmal am Schauplatz eines Mordes einen Zettel mit seiner Telefonnummer findet, versucht sie natürlich herauszufinden, was dahintersteckt, ohne zu ahnen, in welche Tragödie ihr Anruf sie und ihren ehemaligen Kollegen verwickelt. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwischen den Kriegen

Roman | Krimi | Robert Hültner: Am Ende des Tages Mit Paul Kajetan hat Robert Hültner in seinem neuen Roman Am Ende des Tages eine Figur geschaffen, mit deren Hilfe es ihm gelingt, seinen Lesern das Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen zu erklären. Die bisher vorliegenden sechs Romane um den unangepassten Mann, dessen Aufrichtigkeit und moralische Integrität ihm Anfang der 20er Jahre seine Polizeikarriere gekostet haben, verbinden spannende Unterhaltung mit einem facettenreichen Zeitporträt. Allerdings sieht es am Schluss des aktuellen Abenteuers ganz so aus, als wäre es Kajetans letzter Fall. – Von DIETMAR JACOBSEN

Mit Spazierstock und Schnür-Stiefelchen

Roman | Eckhart Nickel: Spitzweg

Nach langjähriger journalistischer Tätigkeit, popliterarischer Tristesse und gepflegtem Dandytum legt der 1966 in Frankfurt am Main geborene Eckhart Nickel endlich seinen zweiten Roman vor. Und der hat es in sich. Spitzweg kreuzt gekonnt beiläufig und mit großer Lässigkeit kunstgeschichtliche Sujets mit philosophischen Exkursen und zeitlosen Lifestyle-Themen. Von INGEBORG JAISER

Die geheimnisvolle 36

Roman | Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die gerade 60 Jahre alt gewordene Autorin Judith Kuckart vor sechs Jahren in einem Interview erklärt und damit beinahe schon die innere Zerrissenheit ihrer namenlosen Protagonistin aus dem neuen Roman Kein Sturm, nur Wetter vorweg genommen. Von PETER MOHR