Zum dritten Mal macht sich Arnaldur Indriðasons pensionierter Polizist Konráð auf die Suche nach einem verschwundenen Menschen. Wie in den beiden Vorgängerromanen der Reihe – Verborgen im Gletscher (2017, deutsch 2019) und Das Mädchen an der Brücke (2018, deutsch 2020) – wird er auch diesmal von seiner Ex-Kollegin Marta unterstützt. Die ist meist wenig begeistert, wenn sich Konráð in ihre Arbeit einmischt. Doch weil sie diesmal am Schauplatz eines Mordes einen Zettel mit seiner Telefonnummer findet, versucht sie natürlich herauszufinden, was dahintersteckt, ohne zu ahnen, in welche Tragödie ihr Anruf sie und ihren ehemaligen Kollegen verwickelt. Von DIETMAR JACOBSEN
Konráð, Arnaldur Indriðasons pensionierter Reykjavíker Kriminalpolizist, hat ein schlechtes Gewissen. Eine Frau namens Valborg ist mit einer Bitte an ihn herangetreten: Vor 47 Jahren hatte sie gleich nach seiner Geburt ihr Kind zur Adoption freigegeben und seitdem nichts mehr von ihm gehört. Jetzt, schwer krebskrank und ihr Ende vor Augen, möchte sie unbedingt noch wissen, was aus diesem Kind geworden ist und ob es ihm gut geht. Weil Konráð allerdings keine Möglichkeit sieht, der Frau zu helfen, lehnt er ihr Ansinnen zweimal ab. Als er von seinen ehemaligen Mitstreitern bei der Polizei hört, dass Valborg kurz danach in ihrer Wohnung überfallen und brutal ermordet wurde, packt ihn die Reue und er beschließt, ihrem Wunsch doch noch nachzukommen.
Eine Frau sucht Hilfe
Arnaldur Indriðason (Jahrgang 1961), der Doyen der isländischen Kriminalliteratur, international bekannt geworden mit seiner elfbändigen Reihe um den grüblerischen Kommissar Erlendur Sveinsson und dessen Reykjavíker Team, hat seinen aktuellen Protagonisten Konráð bis dato in vier Fällen ermitteln lassen. Mit Tiefe Schluchten liegt jetzt der dritte Band der Reihe auf Deutsch vor. Das Besondere an seiner Hauptfigur ist, dass Konráð, anders als frühere Protagonisten des Autors, in die Rolle des Privatdetektivs schlüpfen muss, wenn er einer Fährte folgt. Denn er hat zwar noch gut funktionierende Verbindungen zu seinen ehemaligen Mitstreitern, gehört selbst aber der Polizei nicht mehr an.
Dessen ungeachtet wird er aufgrund seines Rufes, einer der besten Ermittler zu sein, die die Reykjavíker Kriminalpolizei je hatte, aber immer wieder angesprochen, wenn es um die Lösung bisher ungeklärter, zeitlich meist weit zurückliegender Fälle geht. Das bringt den Mann nicht selten in Konflikte mit ehemaligen Kollegen. Doch Konráðs Hartnäckigkeit und sein Gespür für menschliche Schwächen und Widersprüche führen ihn meist auf die richtige Spur.
Ein Ex-Polizist gibt keine Ruhe
Und so braucht es auch im Falle des Kindes, das die ermordete Valborg einst weggegeben hatte, nicht lang, bis Indriðasons Held ahnt, dass der Grund für die ansonsten schwer zu verstehende Reaktion der Frau auf ihre Schwangerschaft darin zu sehen ist, dass ihr wohl eine Vergewaltigung vorausging. Aber wer und warum sollte 47 Jahre nach der Geburt des unerwünschten Kindes ein Interesse daran haben, Valborg zum Schweigen zu bringen? Es braucht eine gewisse Zeit, ein paar glückliche Zufälle und nicht zuletzt das Auftauchen der Hebamme, die Valborg einst zur Seite stand, ehe sich die Rätsel um das vor Jahrzehnten verschwundene Kind und den aktuellen Mord an seiner Mutter schließlich auf äußerst tragische Weise lösen.
Tiefe Schluchten beginnt mit einem Kapitel, das ein wenig an die den Hitchcock-Film Fenster zum Hof eröffnende Kamerafahrt erinnert. Aus einem gegenüberliegenden Gebäude beobachtet ein Voyeur das Haus, in dem der Mord an Valborg geschieht. Er sieht streitende Eltern, spielende Kinder, Sex, Gewalt und Einsamkeit. Auch den Augenblick des Überfalls auf die alte Frau bekommt er mit und benachrichtigt anonym die Polizei. Die wird den Mann später ausfindig machen und erfahren, dass er nicht auf der Suche nach kompromittierenden Bildern ist, sondern am liebsten alltägliche Szenen des Glücks sucht und ablichtet, eines Glücks, das er selbst nicht mehr zu empfinden vermag.
Melancholische Blicke ins Leben der anderen
Was den Täter betrifft, sind die Angaben des einsamen Beobachters allerdings zu vage, um Konráð und Marta bei ihren Ermittlungen weiterzuhelfen. Was freilich die Romanwelt des Arnaldur Indriðason angeht, so ist die Szene bezeichnend. Denn viele Helden des isländischen Autors werden von tragischen Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit verfolgt, können sich nicht von quälenden Schuldgefühlen lösen oder suchen verzweifelt Auswege aus ihrer Einsamkeit.
Auch Konráð findet seit Jahrzehnten keine Ruhe, weil ihn der unaufgeklärte Mord an seinem Vater umtreibt. Was die Polizei in den 1960er Jahren nicht herauszufinden vermochte, beschäftigt den Sohn seitdem unentwegt. Denn er will wissen, wer sein Vater wirklich war und warum er auf einer nächtlichen Straße einsam sterben musste. Auch Tiefe Schluchten liefert letzten Endes noch keine Lösung dieses existentiellen Rätsels, führt seinen Helden aber näher an die Wahrheit heran als die beiden ersten Bände der Reihe.
Die Leser werden sich also noch gedulden müssen, bis die deutsche Übersetzung des in Island 2020 erschienenen vierten Bandes der Reihe vorliegt. Vielleicht vertreiben sie sich die Zeit bis dahin damit, die bisher vorliegenden drei Bücher ein zweites Mal zu lesen. Denn Arnaldur Indriðason gehört zweifelsohne zu jenen wenigen Verfassern von Kriminalromanen weltweit, deren Werke beim Wiederlesen nichts von ihrem Reiz verlieren. Was hierzulande auch an der äußerst gelungenen Übersetzung durch Kristof Magnusson liegen dürfte.
Titelangaben
Arnaldur Indriðason: Tiefe Schluchten
Übersetzung aus dem Isländischen von Kristof Magnusson
Köln: Lübbe 2021
398 Seiten. 22,90 Euro
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