Kampf um das Inselparadies

Roman | Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest

»Es geht in diesem Prozess gar nicht um meinen Roman, sondern um Ideologie«, hatte Nobelpreisträger Orhan Pamuk kürzlich in einem Interview erklärt. Mehrmals hatte ihn die Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt, nachdem die große türkische Tageszeitung Hürriyet eine regelrechte Hetzjagd gegen den Schriftsteller inszeniert hatte. »Was bezweckt Orhan Pamuk damit, dass er Atatürk verhöhnt? Will er einen Aufruhr anzetteln? Will er dem Ausland eine Botschaft senden?«, lauteten die rein rhetorischen Fragen des Chefredakteurs Ahmet Hakan. Dieses verbale Säbelrasseln am Bosporus im Vorfeld des Erscheinens der deutschen Übersetzung erschwert eine unbefangene Lektüre des neuen anspielungsreichen und ausschweifenden Pamuk-Epos. Von PETER MOHR

»Das Vorliegende ist sowohl ein historischer Roman als auch ein Geschichtsbuch in Romanform. Eingebettet in einen historischen Rahmen werden die erschütterndsten sechs Monate geschildert, die meine geliebte Heimat, die Insel Minger, die Perle des östlichen Mittelmeers, je erlebt hat«, heißt es in einer Art erzählerischen Prolog, der (wahrscheinlich ist dies so intendiert) stärker in die Irre führt, als dass er dem Leser eine Fährte durchs Erzähl-Labyrinth aufzeigen könnte.

Pamuk spielt bewusst mit Verschleierungen und lässt seine Protagonistin, eine Nachfahrin der fiktiven osmanischen Prinzessin Pakize, als Zweiflerin durch die Handlung führen. Sie beruft sich entschuldigend auf ihre fehlende Zeitgenossenschaft, auf den Umstand, dass sie keine Schriftstellerin sei und versucht aus überlieferten Tagebüchern und Briefen das Leben auf der fiktiven Insel Minger (irgendwo zwischen Rhodos und Kreta zu verorten) zu rekonstruieren, wo im Jahr 1901 die Beulenpest ausgebrochen ist.

Diese Insel wird von Pamuk mit großer Akribie beschrieben, in den schönsten Farben ausgemalt und mit den verlockendsten Düften ausgestattet. Ein wahres mediterranes Paradies entsteht vor dem Auge des Lesers. Und genau diese Insel Minger dient Pamuk als Mikrokosmos für all die Scheußlichkeiten, die sich rund um den Erdball ereignen. Blutige Machtkämpfe, die mal stärker ideologisch, mal stärker religiös motiviert sind.

Muslimische Scheichs, orthodoxe Priester, ein allmächtiger Sultan namens Abdülhamit, eine osmanische Prinzessin, verfeindete Griechen und Türken treffen dort aufeinander – in einem durch die Pestbekämpfung immer unüberschaubar werdenden Chaos. Es gibt eine Revolution, es fließt viel Blut, es wird geputscht, ehe die Insel Minger – dank des zwielichtigen Kommandanten Kamil – unabhängig wird. An eben jener Kamil-Figur, hinter der Pamuk-Kritiker Kemal Atatürk (1881-1938), den Gründer der modernen Türkei, zu erkennen glaubten, entzündeten sich in Pamuks Heimat die Proteste.

Einige Sequenzen dieser bisweilen in morgenländisch-märchenhafte Sphären abgleitenden Handlung katapultieren uns abrupt ins Hier und Jetzt, in die von heftigen Kontroversen geprägte Corona-Gegenwart. Freiheitseinschränkungen, Zweifel an der Wissenschaft, Verschwörungstheorien und vor allem die von unterschiedlichen Ideologien beseelte Suche nach vermeintlich Schuldigen: All das präsentiert uns Pamuk auf der Ägäis-Insel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In geradezu apodiktischem Tonfall erklärt Bonkowski Pascha, eine der zahlreichen Nebenfiguren: »Für Tausende von Toten in Indien und China ist ein und derselbe Bazillus verantwortlich, ein und dieselbe Seuche. So wie auch in Izmir.«

Das wirkt alles ziemlich holzschnittartig, manche Figuren wachsen nicht über den Status eines Stichwortgebers hinaus. Und genau daran krankt dieser opulente Roman von fast 700 Seiten Umfang, der sich mehr schlecht als recht zwischen dichterischer Fiktion und politischer Allegorie hin- und her windet: Das Personal wirkt blutleer, wie folkloristisch-bunt ausstaffierte Marionetten ohne jedes Identifikationspotenzial. Politische Machtkämpfe, religiöser Fanatismus und ethnische Animositäten verschwimmen zu einer faden, substanzlosen erzählerischen Melange. Die Debatte, die dieser Roman in der Türkei entfacht hat, wirkt aus der Ferne betrachtet wie ein politisches Muskelspiel, ein inszenierter Schaukampf zwischen nationalistischen Hardlinern und dem westlich orientierten Schriftsteller.

»Es lebe Minger. Es leben die Mingerer. Es lebe die Freiheit.« Mit diesen markigen Sätzen entlässt Orhan Pamuk, der im Juni seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, die Leser aus der Handlung. Ja, die Naturbeschreibung des fiktiven Inselparadieses Minger ist dem Nobelpreisträger von 2006 ausgesprochen eindrucksvoll gelungen. Nicht gerade viel für einen Roman dieses kapitalen Umfangs.

| PETER MOHR

Titelangaben
Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
München: Carl Hanser 2022
694 Seiten, 30 Euro
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