Roman | Dorothee Elmiger: Schlafgänger
»Es ist nicht so, dass ich mich hinsetze und sage: So, jetzt schreibe ich etwas extrem Kompliziertes. Diese Form ergab sich für mich zwingend aus dem Material“, hatte die 29-jährige Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger kürzlich über ihr neuestes Werk erklärt. Nun ist ihr zweiter Roman Schlafgänger erschienen. Von PETER MOHR
Bereits in ihrem vor vier Jahren mit dem »Aspekte-Literaturpreis« ausgezeichneten Debüt hatte sie viel Mut bewiesen und sich inhaltlich und formal geradezu quer zum literarischen Zeitgeist positioniert. In Einladung an die Waghalsigen schwang eine an Wolfgang Hilbig erinnernde leicht apokalyptische Hintergrundmusik mit.
Auch ihr neues Werk Schlafgänger verlangt dem Leser einiges ab. Es gibt nämlich weder eine lineare Handlung noch einen stringenten roten Faden. Elmiger lässt uns an einer ungezügelten Tischrunde teilnehmen, in der mehr schwadroniert als diskutiert wird und in der es höchst emotional zugeht. Personen unterschiedlichster Provenienz ereifern sich über ein politisch höchst brisantes Thema: Heimat und Einwanderung.
Die Schweiz erscheint als großer multikultureller Tummelplatz, als gigantische Gedankenbörse, in der unendlich viele Stimmen (Logistiker, Journalist, Übersetzerin, Schriftstellerin, Student) durcheinander auf den Leser einprasseln. Es geht um Gegensätze, alles wird auf den Kopf gestellt: Heimat und Fremde, arm und reich, Glück und Pech, Liebe und Tod – letztlich bei vielen Dingen, eine Frage der Perspektive. »Obwohl meine Situation sich gänzlich von der ihren unterschied, stand meine Unruhe doch in einem Zusammenhang mit ihrer Anwesenheit«, bemerkt eine der vielen durcheinander redenden Personen.
Dorothee Elmiger arbeitet mit realen Versatzstücken, sie montiert Zitate aus dem Fernsehen und aus Zeitungen in ihren durch und durch assoziativen Text ein. Die Irritation wird mit großer Konsequenz als Stilmittel genutzt. Die Rolle der einstigen Schlafgänger, die in der Zeit der Frühindustriealisierung in mehreren Schichten arbeiteten und sich die Betten teilen mussten, nehmen die Zuwanderer aus fremden Ländern ein. Hier wimmelt es von Anspielungen und Querverweisen, so auch bei diesem Brückenschlag aus der Geschichte in die Gegenwart über Menschen am Rande der Gesellschaft.
Dorothee Elmigers zweiter Roman Schlafgänger kratzt ganz sanft am Fundament unseres zeitgenössischen Denkens, die Mechanismen des Kapitalismus werden genauso gezielt aufgespießt wie das latent zementierte patriotisch-nationale Denken.
Die Autorin evoziert eine diffuse Stimmungsmelange zwischen Bedrohung und Hoffnung, zwischen Stillstand und Aufbruch. Der renommierte Schweizer Psychologe C.G. Jung schrieb einmal so treffend: »Alles das uns an anderen irritiert, kann uns zu einem besseren Selbstverständnis führen.«
Titelangaben
Dorothee Elmiger: Schlafgänger
Köln: Dumont Verlag 2014
141 Seiten. 18.- Euro