Mut der Verzweiflung

Jugendbuch | Kimberley Brubaker Bradley: Gras unter meinen Füßen

Die 9jährige Ada ist mit einem Klumpfuß geboren. Sie hat das Pech, eine Mutter zu haben, die sie dafür hasst und ihr noch nie in ihrem Leben erlaubt hat, die schäbige Londoner Wohnung zu verlassen. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, meint ANDREA WANNER.

Zeichnung eines Mädchens mit braunem Zopf. Über Ihr fliegen Kampfflugzeuge.Zwei Kinder stehen an einem Pferdepflug.So viel Ekel und Abscheu, wie sie in den Aktionen und Reaktionen von Adas Mutter zu spüren ist, ist schwer zu ertragen. Beim Lesen schnürt sich einem die Kehle zu angesichts von Adas Schicksal. Sie krabbelt durch die Wohnung, versorgt ihren jüngeren Bruder, kocht Tee für die Mutter, die nachts in einem Pub arbeitet und die Tage weitgehend verschläft. Alles, was sie dafür bekommt, sind Hohn und Spott und herabsetzende, vernichtende Worte. Wenn etwas nicht nach dem Willen der Mutter läuft, wird das Mädchen nächtelang unter der Spüle in einem winzigen Schrank eingesperrt, der absolute Albtraum.

Als ihr kleiner Bruder Jamie 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, zusammen mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern aufs Land verschickt wird, schließt sich Ada, die sich zwischenzeitlich heimlich mühsam das Gehen beigebracht hat, einfach ohne Wissen der Mutter an. Der Plan gelingt und zwei verwahrloste, untergewichtige und vernachlässigte Kinder landen bei Susan Smith, die sie nicht haben will.

Misstrauen auf beiden Seiten. Aber Susan kümmert sich, sorgt für saubere Kleidung, gutes und regelmäßiges Essen, Wannenbäder, ein weiches, warmes Bett mit frischen Laken: ungeahnter, nie gekannter Luxus, über den Ada und Jamie nur argwöhnisch staunen können. Das Mädchen lernt Dinge kennen, die sie nie zuvor gesehen hat: Gras zum Beispiel, das weiche, grüne erstaunliche Etwas. Und Susan hat ein Pony. Vom Evakuierungszug aus hat Ada ein Mädchen reiten sehen. Das will sie auch: so schwerelos über den Boden fliegen. Und unbemerkt bringt sie sich, willensstark und trotz aller Fehlversuche nicht kleinzukriegen, das Reiten auf dem Pony bei.

Eine Zeit der kaum merklichen Annäherung beginnt. Ada erzählt ihre eigene Geschichte, findet Worte für das Unsagbare, lässt den Zweifel und das fehlende Vertrauen angesichts ihrer schrecklichen Kindheit ganz behutsam verständlich werden. Aber auch Susan hat eine Geschichte, die sich aus vielen kleinen Puzzleteilen zusammensetzt. Auch sie hat Verluste erlitten, ist verletzt und es dauert lange, bis sie sich darüber klar wird, was die beiden Kinder für sie sind.

Wie haltbar ist dieses Glück? Ada ist zwischenzeitlich auf Krücken unterwegs, lernt lesen und träumt von einem operierten Bein. Aber wie sieht die Zukunft aus? Niemand wagt, sich diesem geborgten Leben wirklich zu trauen. In London droht die Mutter vom Ada und Jamie und eines Tages steht sie tatsächlich vor der Tür, um die Kinder zu holen.

Kimberley Brubaker Bradley ist ein kleines Meisterwerk gelungen, das trotz aller Schwere und Brutalität auch poetische und heitere Seiten hat. Bereits ausgezeichnet mit dem Luchs der ZEIT und Radio Bremen in der von Beate Schäfer übersetzten Version, mit Preisen wie dem »Wall Street Journal Best Book oft he Year« kann man die gewinnbringende Lektüre nur allen ans Herz legen.

Titelangaben
Kimberley Brubaker Bradley: Gras unter meinen Füßen
Das Jahr, als ich leben lernte
(The war that saved my life, 2015), aus dem Englischen von Beate Schäfer
München: dtv Reihe Hanser 2024
336 Seiten, 16 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Traum zum Alptraum

Nächster Artikel

Leben vor den Toren des Paradieses

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

»Sei kein Arschloch!«

Jugendbuch | Maja Ilisch: Unten

Nevo lebt in einem Haus, das sie noch nie verlassen hat. Besonders lustig geht es in diesem dort nicht zu: Für alles gibt es Regeln. Und wer sich nicht daran hält, bekommt Probleme. Aber dann geschieht etwas, das Nevo zum Handeln zwingt. Von ANDREA WANNER

Dreamteam

Jugendbuch | Tom Limes: Voll verkackt ist halb gewonnen Julian, Liza, Tariq und Max können sich nicht ausstehen und jetzt sollen sie zusammen eine Arbeitsgruppe bilden. Es ist ihre allerletzte Chance auf einen Schulabschluss und es sieht nicht aus, als ob es funktionieren würde. Von ANDREA WANNER

Auf der Suche

Jugendbuch | Kristina Pfister; Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten Abgeschlossenes Studium der Kulturwissenschaft. Und dann? Annika gehört zur Generation Praktikum und wir begegnen ihr als ihr negatives Lebensgefühl einem neuen Hoch – oder besser gesagt Tiefpunkt erreicht hat. Von ANDREA WANNER

Unausgesprochenes

Jugendbuch | Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe Die Quaker Heights Day School ist eine angesehene Privatschule in der Nähe von New York. Merissa und Nadja verbringen dort ihr letztes Schuljahr, Tink ist nicht mehr dabei. Drei ganz unterschiedliche Mädchen, drei Schicksale. Joyce Carol Oates zeichnet ein düsteres Bild vom Erwachsenwerden. Von ANDREA WANNER

Die falschen Geister der Vergangenheit

Jugendbuch | Jennifer R. Hubbard: Atme nicht Die Selbsttötung von Jugendlichen ist ein ebenso tabuisiertes wie brisantes Thema. Jugendliche fasziniert es allemal, vor allem aber ist es wichtig, es offen anzugehen. Tut man es, begibt man sich allerdings auf einen Weg, der Klippen und Fallgruppen in unangenehm hoher Zahl aufweist. Die US-amerikanische Autorin Jennifer R. Hubbard hat sich in ihrem Jugendbuch Atme nicht – ihrem ersten, das auf Deutsch erscheint – unerschrocken auf diesen Weg begeben und eine überraschend komplexe Geschichte vorgelegt. Von MAGALI HEISSLER