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Zwischen Korruption und Konfuzianismus

Roman | Qiu Xiaolong: 99 Särge

In seinem siebten Fall 99 Särge verschlägt es Oberinspektor Chen Cao aus Shanghai unter die Netzbürger. An dem dubiosen Selbstmord des Direktors der Wohnungsbaubehörde der Millionenstadt sollen Aktivisten im Internet nicht unschuldig sein. Als dann auch noch ein mit dem Fall befasster Polizist am helllichten Tag überfahren wird, beginnt Chen Nachforschungen anzustellen, ohne dazu legitimiert zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN

ZD_QuiXialong_99Saerge_P02.inddOberinspektor Chen Cao ist eine ehrliche Haut. Der Mann, der nebenbei noch englische Literatur übersetzt und gefühlvolle Gedichte schreibt, lässt sich nicht korrumpieren, pflegt ein gelassen-freundschaftliches Verhältnis zu seinen Untergebenen und macht keine faulen Kompromisse, wenn es um die Wahrheit geht. Das hat ihn einesteils zu einer in der Öffentlichkeit geachteten Persönlichkeit gemacht, andererseits seine Parteikarriere nicht gerade befördert. Trotzdem ist er gut vernetzt bis hinauf in die Pekinger Führungsriege und darf sich deshalb gelegentlich Aktionen leisten, die anderen die Karriere, womöglich sogar den Kopf kosten würden.

Diesmal ist es der Selbstmord eines hohen Beamten, zu dessen Aufklärung Chen Cao »beratend« hinzugezogen wird. Dass an der Sache etwas faul ist, ahnt er sofort. Denn warum sollte ein Mann erst Schlaftabletten nehmen und sich danach erhängen? Allein die den Fall untersuchenden Behörden sind nicht daran interessiert, den Suizid des Direktors der Shanghaier Wohnungsbaubehörde der Öffentlichkeit als etwas anderes als die verzweifelte Tat eines von »Netzbürgern« in die Enge Getriebenen zu verkaufen.

Nur im Netz ist Demokratie erfahrbar

Denn jener Zhou Keng besaß offensichtlich gefährliches Hintergrundwissen. Und obwohl ihn die Partei mit einem so genannten shuanggui – dem nicht legalen Festsetzen einer missliebigen Person an einem unbekannten Ort auf unbestimmte Zeit – erst einmal aus der Schusslinie nahm, blieb er ein Risiko für all jene, die sich wie er im Geheimen die Taschen füllten, während sie öffentlich von sozialistischer Moral schwadronierten. Mit seinem Tod hingegen lässt sich wunderbar eine Verschärfung der Internetzensur begründen, sind doch Blogger und andere kritische Geister, die die versprochene Demokratie allein im Internet zu finden vermögen, der neue innere Feind all jener, die sich auf Kosten der Mehrheit der chinesischen Gesellschaft hemmungslos bereichern.

Wie gefährlich es ist, hinter den Kulissen nach der Wahrheit zu suchen, muss Chen Cao erfahren, als ein alter Freund und Mitstreiter von ihm durch einen fingierten Verkehrsunfall beseitigt wird. Das hindert den Oberinspektor allerdings nicht daran, mithilfe einer jungen Journalistin, mit der sich auch eine zarte Liebesgeschichte entwickelt, und eines jener vielen engagierten »Netzbürger« weiter zu ermitteln.

Was er am Ende weiß, ohne es freilich verwenden zu können, lässt ihn vor allen Dingen über seine eigene Stellung in einem System nachdenken, in dem sich jeder, der dazugehört und profitiert, in gewisser Weise auch mitschuldig macht. Chen Caos daraus resultierender Entschluss, den Dienst bei der Shanghaier Polizei zu quittieren, ist deshalb nur konsequent, bedeutet aber hoffentlich nicht auch, dass die Leserschaft nun auf weitere Fälle, in deren Mittelpunkt er steht, verzichten muss.

»Lieber in einem BMW weinen, als auf dem Fahrrad lachen.«

Qiu Xiaolongs Roman vermittelt auf so unterhaltsame wie spannende Weise Einblicke in ein Land, in dem die heikle Balance zwischen sozialistischer Doktrin, Einparteienherrschaft und freier Marktwirtschaft, wie sie gegenwärtig praktiziert wird, immer wieder zu großen Problemen führt. Zhu Rongji, Premierminister Chinas von 1998 bis 2003 und hauptverantwortlich für die Reformen, die den Weg des Landes zur ökonomischen Weltmacht ebneten, soll einmal gesagt haben, dass er 99 Särge für korrupte Kader bereithalte und einen hundertsten für sich selbst.

Geändert an der Lage hat der kecke Spruch nicht viel, wie jüngst erst Presseberichte über die riesigen, in karibischen Steueroasen versteckten Vermögen der chinesischen Elite zeigten. Korruption und Vetternwirtschaft, Privilegien aufgrund der gesellschaftlichen Stellung – im modernen China, wo die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, sind sie an der Tagesordnung.

Und auch Qiu Xiaolong könnte wahrscheinlich nicht so offen über die Zustände in seinem Vaterland schreiben, würde er nicht seit 1988 in den USA leben. Dass er es aber tut, zeigt nicht nur, wie verbunden er sich der alten Heimat nach wie vor fühlt, sondern dass er wohl eine ähnliche Verantwortung spürt wie sein wahrheits- und ehrlichkeitsbesessener Inspektor Cao, der lieber seinen Hut nimmt, statt seine menschliche Integrität aufzugeben.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Qiu Xiaolong: 99 Särge
Oberinspektor Chens siebter Fall
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
Wien: Paul Zsolnay Verlag 2014
286 Seiten. 17,90 Euro

Reinschauen
Qiu Xiaolong: Blut und rote Seide in TITEL kulturmagazin

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