Gesellschaft | Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror
Vor vier Jahren schaffte sich Deutschland ab, blieb aber immerhin lebendig genug, um zwei Jahre später zu erfahren, dass Wunschdenken uns in die Krise geführt hat. Nun klappert ein neues Gespenst bedrohlich mit bleichem Gebein. Eine veritable Schreckensherrschaft tobt um uns. Durch Tugend. Thilo Sarrazin ruft mit ›Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland‹ wieder zu einem Kreuzzug auf und erweist sich als ganz und gar unbelehrbar. Von MAGALI HEISSLER
Sarrazins neues Buch ist in ruhigem Tonfall gehalten und, auf den ersten Blick, in klarer Sprache. Der Eindruck trügt jedoch, das merkt man in dem Augenblick, in dem man ernsthaft versucht herauszufinden, worum es geht. Das erweist sich als nahezu unmöglich, wodurch die Lektüre streckenweise zur Geduldsprobe wird, so langweilig ist sie. Einschichtig, statisch, ohne jeden denkerischen Reiz.
Tugendterror, ein Begriff, der offenbar von dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen übernommen wurde, wie auch ein schwacher Ansatz zu einer Definition, scheint öffentlich geäußerte moralische Empörung gegen öffentliche Äußerungen zu sein, die eine Diskussion unmöglich macht.
Diese moralische Empörung beeinflusst heute in starkem Maß Meinungsbildung und Meinungsfreiheit, behauptet der Autor. Den beiden Phänomenen sind viele Seiten gewidmet, ohne dass am Ende deutlich wird, wie es nun genau darum bestellt ist. Sarrazin zitiert Autoritäten aus Individual- und Sozialpsychologie, Soziologie und Politik. Wer auf Schlussfolgerungen hofft, von denen man für die weitere Lektüre ausgehen kann, hofft vergebens. Serviert wird eine Blütenlese aus Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Untersuchungen und meist eher populären Sachbüchern. Oder, wie der Autor schreibt: »Ich greife heraus, was mir für meine Fragestellung nützlich erscheint.«
Mit der Literatur wird im Übrigen wenig sorgfältig umgegangen, im ganzen Buch nicht. Kaum eine Stichprobe genügt der erforderlichen Sorgfaltspflicht. Darum geht es auch nicht, weil der Autor mit Vagem arbeitet, mit dem Öffnen von Assoziationsräumen, in denen jede und jeder frei ist zu meinen, dass sie verstanden haben, worum es geht. ›Meinungs-Freizügigkeit‹, wenn man will, die tatsächlich Befindlichkeits-Freizügigkeit ist.
Schuld am Tugendterror scheinen die Medien zu haben, in denen Journalistinnen und Journalisten am Werk sind, die in Deutschland mehrheitlich links sind. Definiert wird links an keiner Stelle. Der Begriff scheint all die zu umfassen, die nicht uneingeschränkt auf Seiten des Autors stehen. Damit kann man leben, mit der fehlenden Definition allerdings nicht, möchte man das Ganze ernst nehmen.
Ego-Dokument
Um dem Vorwand zu begegnen, bei diesem Buch handle es sich um nichts anderes als den Aufschrei eines Beleidigten, dessen Weckruf an die Nation nicht mit allgemeinem Enthusiasmus gefeiert wurde, ist es so aufgebaut, dass man die eingehend geschilderten Vorgänge um die Rezeption von ›Deutschland schafft sich ab‹ übergehen kann. Deswegen ist man trotzdem nicht vor dem Autor sicher. Das ›Ich‹ taucht immer wieder auf im Text und sogar in den Fußnoten. Es sind stets die ureigenen, höchst persönlichen Erfahrungen, die Sarrazin anbietet als Ausgangspunkt und zugleich impliziten Beleg für seine Thesen, die im Übrigen die gleichen sind, wie in ›Deutschland schafft sich ab‹. Es gelingt dem Autor sogar, die Kopftuchmädchen wieder unterzubringen, geschickt kombiniert mit Ausführungen über von Freud konstatierte Zwangsneurosen, an denen im nebulösen Assoziationsraum die erkrankt sind, die anderen diesen Ausdruck untersagen.
Mehr gravitätisch als elegant an schwierigen Feldern wie Biologismus, Rassismus bis hin zu Vorbestimmung entlangschreitend, wobei die Zehenspitzen oft gefährlich weit auf den weißen Streifen geraten, springt Sarrazin quer durch die europäische Geschichte immer auf der Suche nach Bestätigung seiner Überzeugung, dass die Dinge zu sein haben, wie sie immer schon waren. Das ›Ich‹ und seine Empfindungen sind dabei These und Definition, Analysefaktor, Parameter, Stichprobe, Kontrollgruppe und Beweis in einem. Das Maß aller Dinge. Der gesamte Text ist wahrhaftig ein Ego-Dokument.
Verunklärung
Wogegen sich Sarrazin dann eigentlich wendet, wird im letzten Teil des Buchs deutlicher. Dort führt er vierzehn Kernbereiche dieser Gesellschaft auf, deren Veränderung so umfassende Folgen haben würde, dass sie einer Art Weltuntergang gleichkämen. Dabei sind weder die Anzahl noch die Themen der einzelnen »Axiome«, wie der Autor sie nennt, von Bedeutung. Es hätten auch mehr oder weniger oder andere Themen sein können, schreibt er. So schlägt man sich beim Hieven des Ankers gleich ein Leck in die Bordwand. Die Segeltour ist daher auch nicht von langer Dauer.
Als Grundübel wird das Ideal der Gleichheit identifiziert. Das stammt von Rousseau und führte stracks in die Folterkeller Stalins. Katholische Soziallehre, Feminismus, Schwulenbewegung, Theologie-, Philosophie- und Soziologie-Lehrstühle sind davon infiziert, ebenso heimatlos gewordene Sozialisten und Marxisten. Das alles steht gegen eine allein vom Autor konstruierte Wirklichkeit, in der die Ungleichheit der natürlichen Evolution herrscht. Nur Ungleichheit fördert Leistung, weil die Wirklichkeit funktioniert wie ein Verbrennungsmotor, nämlich aus dem Verhältnis von Überdruck und Unterdruck.
Dementsprechend sind auch die Axiome formuliert. Zuerst werden zu Themen, wie etwa Gleichheit Frauen, Leistung, Ende des Nationalstaats, Familie, Ansturm auf deutsche Sozialsysteme und selbstverständlich Islam, Stimmen der Befürworterinnen und Befürworter aufgezählt. Sie reichen von extremen, durchaus auch absurden Forderungen bis hin zu moderaten und vernünftigen, als ob die, die solche Forderungen aufstellen, eine homogene Gruppe bildeten und alle der gleichen Meinung zum jeweiligen Thema wären. Gleichmacherei wird hiermit de facto von nur einem vorgenommen, dem Autor selbst nämlich. Angreifbar ist er nicht, er schreibt schon einleitend, dass manches satirisch überspitzt sei. Wieder öffnet er nur einen Assoziationsraum und bringt sich zugleich in Sicherheit.
Damit verhindert er jede Klärung. Eine Aufklärung über die Themen, die allesamt brandaktuell und hochwichtig sind, wird hier nicht geleistet. Es wird verunklärt, desinformiert. Ängste werden geschürt und verstärkt. Leserinnen und Leser werden nicht respektiert, das ist eigentlich das Schlimmste, was man ihnen antun kann.
Herrscht in Deutschland Tugendterror? Nein, das glaubt nur der Autor. Muss man sich vor diesem Tugendterror fürchten? Natürlich nicht. Fürchten muss man sich höchstens vor dem nächsten Thema, das Sarrazin zum Vehikel für seine immer gleichen fixen Ideen machen wird.
He’ll be back.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
München: DVA 2014
396 Seiten. 22,99 Euro
Reinschauen
Leseprobe Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror (pdf)
Alte neue Überfremdungsfantasien – Peter Blastenbrei zu Doug Saunders: Mythos Überfremdung