Film | Im TV: TATORT 909 – Kaltstart (NDR), 27. April
Eine Vorgruppe tritt auf und stimmt’s Publikum auf den Auftritt vom Dreamteam ein, so nähme der skeptische Blick die ersten Minuten wahr – ach diese Eröffnung hat trotz aller Dramatik etwas Pomadiges, war das wirklich nötig, die Zufälle sind arg durchsichtig drehbuchgesteuert. »Zwei tote Kollegen und der Chef schwer verletzt«, darauf läuft’s hinaus. Von WOLF SENFF

Foto: NDR/Boris Laewen
Ein Team sucht seine Balance
In ›Kaltstart‹ sollen sie dubiosem Frachtgut nachforschen, sei’s Waffenschmuggel, sei’s Menschenhandel. Thorsten Falke ist nun Bundespolizei, Einsatz in speziellen Ermittlungen: Wo’s brennt, wird Falke eingeflogen. Er wird im norddeutschen Raum ermitteln, nicht ortsgebunden und erneut mit der Kollegin Lorenz, ein Typ Frau, mit Verlaub, ein wenig wie alter Wein in neuen Schläuchen, so großmütterlich, so bieder, aber trägt vermutlich das Label ›norddeutsch‹, friesisch-herb. Nee, meins wär’s nicht.
Von lastenden Tönen Musik untermalt, leidet Falke um Rita Kovic, eine der soeben Ermordeten. Jan Katz aus Esens/Ostfriesland war beim ersten Einsatz in Hamburg, urlaubte beim zweiten Fall auf Langeoog und ist nun in Oldenburg. Wilhelmshaven gehört zu seinem Bezirk, er trägt eine kluge Brille, ist der Typ großer Bruder, wir kennen ihn, er sorgt sich rührend und er tröstet.
Dortmunder Flair in Wilhelmshaven
Komplizierte Sachverhalte müssen erklärt sein, es gibt satt Wie-ist-der-Stand-der-Ermittlung-Gespräche. Damit wir die drei Ermittler nicht verwechseln, werden wir mit reichlich Gesicht in Großaufnahme versorgt, mit angestrengtem Mienenspiel, still leidend, wichtige Gedanken wägend, auch mal bedächtig plus musikunterlegt.
Falke verbreitet schlechte Stimmung, ist unleidlich, unbeherrscht, hat Mühe mit seiner Mimik. »Ich geb‘ Ihnen eine Zigarettenlänge zum Nachdenken. Wenn ich wiederkomme, steht da was drauf«, und weist auf die Tafel. Er ist grob, ganz als wär‘ er dem Dortmunder Ermittler nachempfunden. Nun denn, bei den zahlreichen Ermittlern am Sonntagabend geht ein Alleinstellungsmerkmal schon mal verloren.
›Kaltstart‹ nimmt einen langen Anlauf
›Kaltstart‹ ist zunächst ein mühsam sortiertes Allerlei. Sozialkritik gibt’s, klar, nichts wird ausgelassen. Die Kommissare kümmern sich um Asylprobleme, die Schauspieler dieser Szenen sind bis auf eine Ausnahme ortsansässige Immigranten, Laiendarsteller, die gern auftraten, weil, wie sie selbst sagten, für sie wichtig gewesen sei und befreiend, die eigene traumatische Erfahrung nachzuspielen.
›Kaltstart‹ nimmt einen langen Anlauf, wir tragen’s mit Fassung. Wir werden aufgeklärt, dass die Bedingungen am Arbeitsplatz sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben – nicht eben die heiße Neuigkeit. Wir erfahren außerdem, dass der Jade-Weser-Port bislang eine Fehlinvestition war. Nur als Location für diesen Film, da kommt er prächtig, bitte gleich noch einmal, mehr davon. Überwachung, ach ja, Überwachung war auch schon im Spiel, ohne dass klar war, wer wen.
Diese Welt ist nicht von Pappe
Das Warten hat sich gelohnt, nun wird es ein beklemmendes Hin und Her. Es sind die Ermittler, stellt sich heraus, die überwacht werden, wir sehen bedrohliche Aufnahmen aus Hubschrauberperspektive, es wird dramatisch, kafkaeske Atmosphäre breitet sich aus, sie dominiert die zweite Hälfte des Films, der Boden knirscht und wird rissig unter den Füßen, wir atmen einen Hauch beißender Kälte, erhalten einen flüchtigen Blick auf Organisationen scheu wie Reh, die im Hintergrund globale Strukturen lenken und vorzugsweise unerkannt bleiben.
In einem begleitenden Interview zeigen sich die Drehbuchautoren Volker Krappen und Raimund Maessen überzeugt, »dass das, was man so weiß oder zu wissen glaubt über das, was staatliche Geheimdienste oder auch Aufklärungs- und Nachrichtendienste großer Konzerne treiben, möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs« sei, es handle sich um »mafiöse Strukturen« in einem »Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei«.
Figuren, die vorher eine Rolle spielten, sind nun vergessen, ein professioneller Agent muss sich von einer Minute auf die nächste in den Kongo absetzen, diese Welt ist nicht von Pappe. ›Kaltstart‹ wird stark zielorientiert und spannend, es geht um Geheimdienste, Waffen, Warlords, Defense Robotics.
Finale im Jade-Weser-Port
Das Thema Überwachung mittels einer bewaffneten Drohne ist, wie wir dank Edward Snowdon, NSA und CIA endgültig wissen, politisch brisant. Ökonomisch ist es ein »Wachstumsmarkt mit schier unbegrenztem Potenzial«, wie wir aus dem Gespräch mit einem chinesischen Kunden erfahren.
Zwanzig Minuten lang wird ein ominöser Verdächtiger gejagt, die Jagd führt über die weitläufige Anlage des einzigen deutschen Tiefwasserhafens, welch unnachahmlicher Ort für ein Showdown – ›Kaltstart‹ ist ein angenehm getakteter Krimi, keine eintönige Kette aus Prügelei, Pistolengeballer und derbe lustigen Sprüchen. Nur der seelische Abschiedsschmerz des Ermittlers, musikalisch schwermütig unterlegt, zieht sich nervtötend über neunzig Minuten, wir haben’s verstanden, ja doch.
›Ricochet‹
Für die Verhältnisse von NDR Hamburg wird überaus geizig herumgeballert in ›Kaltstart‹. Im Finale kommt dann jeder auf seine Kosten, und – nur ein Gedanke – nächstes Mal könnte man vielleicht den Querschläger rehabilitieren, es gab Zeiten, da lief gar nichts ohne Querschläger. Sie sirren so unvergleichlich, ein überirdischer Ton, der schwellenlos in Rausch versetzt. Bei der Schießerei zwischen diversen Containertürmen wären Querschläger dramaturgisch sowieso zwingend gewesen. Keinen Western der vierziger, fünfziger Jahre, Sie erinnern sich, gab’s ohne Querschläger, nicht einen.
Soll Leute geben, die sich einen steinalten ›Zorro‹, schwarz-weiß, allein wegen seiner Querschläger auflegen. Der Querschläger, ›ricochet‹, sei, wie jedermann wisse, der Countertenor des Western. Das dürfte übertrieben sein. Aber stimmt, ›ricochet‹ ist französisch, der Engländer hat’s abgekupfert, die englische Sprache kennt hinreißende Worte.
Titelangaben
TATORT: Kaltstart (Norddeutscher Rundfunk)
Regie: Marvin Kren
Ermittler: Wotan W. Möhring, Petra Schmidt-Schaller, Sebastian Schipper
So., 27. 04. 14, ARD, 20:15 Uhr
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