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Von Müllfahrern und Nadelstreifen

TATORT 912 Alle meine Jungs (RB), 18. Mai

In Bremen sucht man den Clanstrukturen auf den Grund zu kommen, das ist verdienstvoll, vor Kurzem hatten wir einen türkischen Familienclan, diesmal, jenseits allen Rassismusverdachts, ist’s eine Abteilung bei den Müllfahrern. Einer wie der andere sind sie Ex-Knackis, alle wohnen in derselben Straße, welch ein Zufall, eine nachbarschaftliche Gemeinschaft gewissermaßen, wie schön, da hat man, klar, gemeinsame Interessen, das schweißt zusammen und niemand wird alleingelassen. Von WOLF SENFF (Foto WDR/J.Landsberg)

Tatort "Alle meine Jungs" Foto: WDR/J.Landsberg
Tatort „Alle meine Jungs“
Foto: WDR/J.Landsberg
Ihr Bewährungshelfer Hugo ›Papa‹ Frank steht überall in hohem Ansehen, er hat eine Rehabilitationsquote von vierundneunzig Prozent, das kommt überaus selten vor. Als Inga Lürsen ihn aufsucht, lässt die Regie, wie gemein, wie hundsgemein, die ersten Takte von »Sympathy for the Devil« einspielen, da sind wir vorgewarnt.

Ästhetik des Negativen

Die Ermittler müssen einen Mord an einem Müllfahrer aufklären. Sie stoßen auf eine, wie man so leichthin sagt, Mauer des Schweigens, der erwähnte Bewährungshelfer fällt besonders unangenehm auf, eine schmierige, abstoßende, schleimige Figur, ekelerregend, wir müssen den ›TATORT‹ loben für den Mut, Personal einzupflegen, das nicht ›politisch korrekt‹ ist – eine absolut begeisternde Studie eines durch und durch widerlichen Charakters: Schwammige Gesichtszüge, eine Knollennase, die spätestens nach dem zweiten Glas Korn bestrebt ist, ihre natürliche rötliche Färbung anzunehmen. Können wir mal sehen, wie unangenehm sich unsere Spezies im Einzelfall ausprägt, man muss das doch endlich mal wissen, oder?

Nein, gar nicht lustig, doch wir brauchen das, um sensibel zu werden und unseren Blick zu schärfen für all die Hässlichkeit, die uns umgibt, wer weiß vielleicht werden wir ja doch einmal klug draus, wir geben die Hoffnung nicht auf.

An den Hebeln von Macht und Finanzen

Oh, wie kompliziert ist die Welt und wie verwirrend, wie soll sich einer den Weg bahnen durch das undurchdringliche Gestrüpp dieses Lebens? Hatten wir nicht erst letzte Woche quasi das Gegenteil, den Kölner ›TATORT‹, ich schweife ab, nicht wahr, Sie erinnern sich – und waren da nicht die hässlichsten Seelen rein äußerlich in die anmutige, die reine Unschuld der Jugend gekleidet? Sie erinnern sich an das bezaubernde junge Mädchen, das alle zum Narren hielt?

In ›Alle meine Jungs‹ blättern Inga Lürsen und Stedefreund zu guter Letzt das verlogene kleinbürgerliche Müllfahrerbiotop auf, und wer es noch nicht wusste: Die richtigen Betrüger, die in den Nadelstreifen, die die Hebel der Macht bedienen und die der Finanzen, die sitzen in den Chefetagen. »Denn die einen sind im Dunkeln/ und die andern sind im Licht/ und man siehet die im Lichte/ die im Dunkeln sieht man nicht« (Bertolt Brecht, Dreigroschenoper).

Das Geschehen ist stimmig verknüpft und stringent. Der Schluss ist’s, der verwundert, weil er angedeutet wird, und das Zusammenlegen der Fäden, sofern es das denn geben sollte, wird dem Zuschauer überlassen. Gut, manchmal geht so etwas. In diesem Fall bleibt viel im Schwange, das sich, so ging’s mir, mühsam reimt.

| WOLF SENFF

Titelangaben
TATORT Alle meine Jungs (RB)
Regie: Florian Baxmeyer
Ermittler: Sabine Postel, Oliver Mommsen
So.,18. Mai, 20:15 Uhr

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Gregor Keuschnig zu Rüdiger Dingemann: »Tatort«-Lexikon
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