Tödliche Unterschriften

Roman | Per Leo: Flut und Boden

Per Leos faszinierender Debütroman Flut und Boden. Von PETER MOHR

Per Leo»Er hat Unterschriften geleistet, die unmittelbar tödlich waren. Das ist entsetzlich, aber es ist nicht das Handwerk eines Metzgers. Er hat an keinen Gemetzeln und keinen unmittelbaren Morden teilgenommen, das macht es aber nicht besser«, erklärte der Schriftsteller Per Leo kürzlich in einem Interview über seinen Großvater Friedrich, einst Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS.

Das Handlungsschema wirkt literarisch durchaus vertraut. Der Enkel kramt im familiären Nachlass und stößt in Bücherstapeln auf bedrückende Fundstücke, die die NS-Verstrickung seines Großvaters zweifelsfrei dokumentieren. Und doch schafft es der literarische Debütant Per Leo, ein 42-jähriger, in Berlin lebender promovierter Historiker, ganz singuläre Akzente zu setzen. Historiker und Schriftsteller marschieren in diesem Roman im Gleichschritt, heraus gesprungen ist dabei ein historischer Essay, ein opulentes biografisches Puzzle ohne dokumentarischen Anspruch, das den Zeitraum von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart umfasst.

Der Enkel, ein junger Geschichtsstudent, hinter dem sich nur mäßig getarnt Autor Per Leo verbirgt, bummelt in den frühen 1990er Jahren ziemlich motivationslos durch den universitären Alltag. Er ist körperlich und geistig ausgebrannt, erleidet schließlich einen Nervenzusammenbruch und wendet sich an den psychosozialen Notdienst des Studentenwerks Freiburg. Erst beim zweiten Anlauf wird dem jungen Mann geholfen, nachdem er darüber berichtet, dass sein Großvater »ein lupenreiner Nazi gewesen« sei.

Diese Offenbarung wirkt wie ein Türöffner zur gewünschten Hilfe. Die biografische Last eines Nazi-Vorfahren wird unverzüglich als krisenauslösendes Trauma anerkannt. Eine zweite Klammer zur Gegenwart wird durch ein historisches Seminar gesetzt, dass ein Holocaust-Experte unter dem Thema »Nationalsozialistische Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs« an der Freiburger Uni abhält.

Per Leo rekonstruiert in seinem in diesem Frühjahr für die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse nominierten Roman rückwärtsgewandt die Geschichte seiner Familie, eines angesehenen bürgerlich-protestantischen Hauses in Bremen, in dem einst die Goethe-Lektüre so selbstverständlich war wie der Morgenkaffee. Daraus entwickelt sich als Kardinalfrage des Romans: Wie konnte sich ein Spross dieser Familie zu einem führenden NS-Rassentheoretiker entwickeln?

Der aufsässige Großvater Friedrich brach die Schule ab, der Nationalsozialismus bot dem Freiluft- und Bewegungsfanatiker (mit Pfadfinderidealen) die letzte Karrierechance. Sein Bruder Martin, eine feinsinnige Künstlernatur, flüchtet hingegen in eine geradezu religiös ausgelebte Anthroposophie. Aufgrund seiner Morbus- Bechterew-Erkrankung wurde er im Frühjahr 1938 von den Nazis zwangssterilisiert. Größer, schlimmer, furchtbarer kann kein Riss sein, der durch eine Familie geht.

»Das Verstörende ist auch, dass die Art von Rassismus, die mein Großvater verkörpert hat, zwei Seiten hat: Das eigene Kollektiv stark zu machen und auf der anderen Seite eigentlich alles, was nicht dem eigenen Kollektiv zugehört, zunächst sich selbst zu überlassen aber unter Bedingungen eines Weltkriegs ist das eben Völkermord«, hatte Per Leo in einem Interview erklärt.

Dieses Buch lebt vom Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, vom exzellent bewältigten Spagat zwischen Schriftsteller und Historiker. Per Leos beinahe heimeligen Sequenzen über das Leben im großbürgerlichen Idyll (das Turmzimmer in Vegesack mit der schönen Aussicht auf die Weser) stehen die brillanten, messerscharfen Analysen des Historikers gegenüber.

Trotz seiner deutlichen Positionierung gegen den Wahn seines Großvaters vermeidet es Per Leo, einen radikalen Rundumschlag anzusetzen, mit Bausch und Bogen zu verdammen und sich von der Empore des Nachgeborenen mit großer moralischer Entrüstung von seinen Vorfahren zu distanzieren. Er hat die Finger in Wunden gelegt, die noch nicht vernarbt sind – ganz nach Henrik Ibsens Motto: Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten.

So bleiben wir als Leser einigermaßen ratlos, aber innerlich völlig aufgewühlt ob der unterschiedlichen Lebensläufe von Friedrich und Martin zurück. Auch dafür müssen wir dem Autor Per Leo dankbar sein. Flut und Boden ist ein beeindruckendes Meisterwerk eines Debütanten.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Per Leo: Flut und Boden
Stuttgart: Klett Cotta 2014
347 Seiten. 21,95 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer bin ich?

Nächster Artikel

Der lange Atem des Todes

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kein Ort für Gott

Roman | Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen

Der polnische Fernfahrer Radek Malarczyk hat Glück: Als ein Unbekannter seinen VW Bulli, in dem er seit einiger Zeit auf Berliner Parkplätzen übernachtet, in Brand steckt, gelingt es ihm, gerade noch mit dem Leben davonzukommen. Der Journalistin Jette Geppert erzählt er daraufhin im Unfallkrankenhaus eine Geschichte von Schuld und Sühne. Die junge Frau Anfang 30 steckt selbst gerade mitten in einer Krise. Doch das Angebot der Polizistin Romina Winter, sich ihr anzuvertrauen, schlägt sie vorerst in den Wind. Und währenddessen glaubt ein junger Postbote dazu bestimmt zu sein, dem über die Stadt herrschenden Satan mit Feuer entgegentreten zu müssen. Johannes Groschupfs drittem Berlin-Roman gelingt auf beeindruckende Weise das Porträt einer Stadt, in der die Widersprüche unserer Zeit und unserer Gesellschaft wie nirgendwo anders in Deutschland zutage treten. Von DIETMAR JACOBSEN

Zur Buchpremiere gab es die Nationalhymne

Menschen | Der Schriftsteller Gabriel García Márquez ist tot »Ich habe einfach aufgehört zu schreiben. Das Jahr 2005 war das erste in meinem Leben, in dem ich nicht eine Zeile zu Papier gebracht habe«, bekannte der kolumbianische Autor in einem Interview mit der chilenischen Tageszeitung La Tercera. Seine Agentin Carmen Balcells hatte damals schon erkannt: »Ich glaube, García Márquez wird nie mehr schreiben.« Der Nobelpreisträger Gabriel García Márquez ist mit 87 Jahren gestorben. Von PETER MOHR

St.-Pauli-Nights

Krimi | Simone Buchholz: Blaue Nacht Als trinkfeste Staatsanwältin hat Chastity Riley in Simone Buchholz‘ Krimi Revolverherz (2008) einen brutalen Prostituiertenmörder auf dem Hamburger Kiez zur Strecke gebracht. Weil sie dabei nicht ganz regelkonform vorging und nebenbei auch noch ihren Vorgesetzten der Korruption überführte, hat man die unkonventionelle und beileibe nicht bei allen beliebte Halbamerikanerin danach vorsichtshalber zur Opferschutzbeauftragten gemacht. Als solche treffen wir sie nun wieder In Buchholz‘ aktuellem Buch Blaue Nacht. Doch weil zu jedem Opfer auch ein oder mehrere Täter gehören, stecken Chastity und ihre alten Freunde bald wieder bis zum Hals in Schwierigkeiten. Von DIETMAR JACOBSEN

Wenn der Alltag Flügel bekommt

Roman | Rachel Ingalls: Mrs. Calibans Geheimnis Mrs. Caliban, eine verheiratete Hausfrau mit eintönigem Alltag hört Stimmen aus dem Radio, Stimmen, die von einem entlaufenen Monster berichten. Es dauert nicht lange und Dorothy lernt das »unverschämt attraktive Monster« kennen. Rachel Ingalls entführt in eine wunderbar fantasievolle und anrührende Geschichte. Von BARBARA WEGMANN

Ein wenig Leben

Roman | Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben Er hört ihnen allen geduldig zu, doch über sich selbst schweigt er. Judes Freunde kennen seine Vergangenheit nicht. Sie haben aufgehört, Fragen zu stellen, denn er würde ihnen ausweichen. Sie lieben ihn einfach, so wie er ist. Doch er selbst kann es nicht, denn die Wahrheit holt ihn immer wieder ein. Von MONA KAMPE