Krimi | Ross Thomas: Fette Ernte
Wie kann es sein, dass im Jahr 2014 ein Roman auf der KrimiZeitBestenliste landet (Platz 2 im Mai und Juni), der im Original vor 39 Jahren erschien und dessen Autor, Ross Thomas, im Dezember 1995 das Zeitliche segnete? Die Antwort fällt nicht schwer: Was die deutschen Leser gut vier Jahrzehnte nach der erstmaligen Übersetzung von Thomas‘ Fette Ernte – im Original The Money Harvest – betiteltem Roman zu lesen bekommen, ist ein völlig anderes Buch als die gerade mal 128 Seiten umfassende Ullstein-Ausgabe von 1975. Und Wunder über Wunder: Der Text hat in all der Zeit nichts von seinem Witz verloren und wirkt über weite Teile wie ein Report aus der Wirtschaftswelt unserer Tage. Von DIETMAR JACOBSEN
Den 14. Juli feiern sie in Frankreich. Den 3. Oktober im wiedervereinigten Deutschland. Und Großbritannien feiert den Geburtstag seiner Königin, der eigentlich der 21. April ist, Jahr für Jahr an einem anderen Tag. Aber was, zum Teufel, hat es eigentlich mit dem 11. Juli auf sich? Der amerikanische Unabhängigkeitstag ist es jedenfalls nicht, den begeht man zwischen Big Apple und Big Orange bekanntlich sieben Tage früher, am 4.7. Was passiert also so Wichtiges in der zweiten Juliwoche, dass am Anfang von Ross Thomas‘ Roman Fette Ernte halb Washington von diesem Termin fasziniert ist und der Mann, der zu wissen scheint, worum es dabei geht, ein paar Tage vorher – auf die Minute genau um 6.22 Uhr morgens – tot auf dem Bürgersteig vor seinem Haus liegt.
Um es kurz zu machen: Am 11. Juli veröffentlicht das US-Landwirtschaftsministerium die Schätzungen aus 44 Bundesstaaten für die bevorstehende Ernte von Weizen, Mais und Sojabohnen. Und wem es gelingt, an die sensiblen Daten, die behütet werden wie die Goldreserven in Fort Knox, vor deren öffentlicher Bekanntmachung heranzukommen, der kann an der Warenterminbörse mit diesen Kenntnissen innerhalb kürzester Zeit astronomische Gewinne machen.
Ein Glücksspiel namens Rohstoffmarkt
Dass der betagte, »Crawdad« genannte William Gilmore, Berater von sechs US-Präsidenten und aufs Beste vernetzt in der Washingtoner Gesellschaft, nicht wegen der Schweinerei, die an jenem besonderen Tag über die Bühne gehen soll, erschossen wird, weiß der Leser von Anfang an. Da er aber am Abend vor seiner Ermordung einem Vertrauten aus alten Tagen dunkle Andeutungen über ein unmittelbar bevorstehendes schmutziges Geschäft gemacht hat, glaubt niemand, dass es die paar erbeuteten Geldmünzen und eine Uhr gewesen sind, die die Täter lockten. Worauf sich das Karussell zu drehen beginnt und aufspringt, wer aufspringen kann.
Fette Ernte ist ein Roman voller Witz und Ironie. Ein Buch, dass die Mechanismen der Gier bloßlegt und aufräumt mit dem frommen Glauben, dass das Gute im Menschen die Welt bewegt. Wer hier agiert, agiert aus Eigennutz. Und steht ihm jemand im Weg, räumt er ihn weg oder – wenn er die Macht dazu besitzt – lässt ihn wegräumen. Manche Seiten dieses grandiosen Romans könnten, leicht verändert, in die Kommentare unserer Wirtschaftspostillen Einzug halten. Und mit seiner Schlusspointe – die den Kreis zum Romanbeginn schließt – nimmt Ross Thomas uns auch noch die letzten Illusionen was Rolle und Bedeutung des Menschen im hauptsächlich vom Zufall gesteuerten Weltgeschehen betrifft.
Eine Neuübersetzung, die bitter nötig war
Wer das Buch übrigens nicht nach dem letzten Romansatz aus der Hand legt, sondern sich auch noch auf die Nachbemerkung seines verdienstvollen Neuübersetzers Jochen Stremmel einlässt, erfährt aus erster Hand, warum es wirklich an der Zeit war, einem Text, der bisher nur in einer um fast die Hälfte gekürzten deutschen Fassung greifbar war, zu seiner vollen Präsenz zu verhelfen. Denn erst in der jetzt vorliegenden Ausgabe wird auch in der »Fremdsprache« Deutsch nachvollziehbar, mit welch genialem Stilisten man es bei Ross Thomas zu tun hatte. Erst Stremmels Übersetzung gibt dem Text zurück, woraus er im amerikanischen Original zu einem Gutteil lebt: Atmosphäre, Lakonik und feine Beobachtungsgabe.
Titelangaben
Ross Thomas: Fette Ernte
Aus dem Amerikanischen und mit einer Nachbemerkung von Jochen Stremmel
Berlin: Alexander Verlag 2014
341 Seiten. 14,90 Euro
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