Roman | Jurij Wynnytschuk: Im Schatten der Mohnblüte
Die Freundschaft eines Ukrainers, eines Deutschen, eines Polen und eines Juden im Lemberg der Zwischenkriegszeit und eine schicksalhafte Melodie, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen. Eine solche Verkürzung wird der Vielschichtigkeit und der reichen Atmosphäre von Jurij Wynnytschuks Roman Im Schatten der Mohnblüte nicht gerecht. Von JUTTA LINDEKUGEL
Wynnytschuk, seit dem Samizdat und Underground der 1970er eine feste Größe der ukrainischen Literatur, zeigt sich einmal mehr als Meister des Hybridtexts: Historische Fakten mischt er mit Mystik, Krimi und bissiger Satire. Gleichzeitig schafft er ein beeindruckendes Porträt der Stadt Lemberg (heute Lwiw).
Die Handlung von Im Schatten der Mohnblüte spielt sich auf zwei Zeitebenen ab: Das polyethnische Lemberg der Zwischenkriegszeit bildet den Hintergrund für die Geschichte der vier Freunde. Die Jungen wachsen in der polnisch besetzten Stadt auf, die man durch Wynnytschuks farbige und detaillierte Beschreibungen riechen, schmecken und hören kann, eine untergegangene Welt ersteht vor dem Auge des Lesers auf. Obwohl der Tod allgegenwärtig ist.
Skurrile Charaktere wie die Großmutter, die als professionelles Klageweib arbeitet, der geschäftstüchtige, aber herzliche Bestatter, bei dem der ukrainische Protagonist Orest in die Lehre geht, oder die uralte Bibliothekarin, die erst sterben kann, wenn ihr Verlobter aus den Tiefen der Regalreihen zurückkehrt, bevölkern diesen Ort. Bei seiner Arbeit im Ossolineum taucht Orest in eine phantastische Parallelwelt ein, die bis auf den Meeresgrund führt.
Mit der Ankunft der Sowjets und später der Nationalsozialisten kehren Brutalität und Terror ein, die Wynnytschuk ebenso plastisch beschreibt. Das tragische Geschehen veranschaulicht er mit grotesken Bildern. Die bolschewistischen »Befreier« z. B. erweisen sich als unzivilisiert: Sie halten Kloschüsseln für Waschbecken, Dessous und Nachthemden für Abendkleider oder dünn geschnittene Wurstscheiben für Sabotage. »Ich sag euch, das sind Barbarenhorden aus der Steppe! Was sie nicht verstehen, wird vernichtet. Die Schneidemaschinen in den Metzgereien zum Beispiel, mit denen man Schinken, Wurst und Käse in dünne Scheiben schneidet, haben die nur verächtlich kommentiert: ‚Welcher Saboteur at sich ausgedacht, die Scheiben so dünn zu schneiden?‘ und die Maschinen sind verschwunden.«
Diese brisante historische Epoche ist durch ein Geheimnis mit der Gegenwart verbunden, der zweiten Zeitebene, in der ein Professor am Totenbuch einer untergegangenen Kultur arbeitet und ein tumber SBU-Agent weiterhin KGB-Methoden anwendet. Ein jüdischer Geiger, ein Tagebuch und der Todestango bilden eine Brücke zwischen den Zeitebenen, die sich annähern, bis sich die Motive Mohn und Todestango zum zentralen Topos verdichten: »Eile war geboten, denn bald wurde bekannt, dass die Juden, die angeblich nach Palästina ausgewandert waren, im Lysenetzer Wald – wie man sagte – Sand gefressen hätten. Sie waren auf dem dortigen Sandplatz erschossen worden. Damals erinnerte ich mich an jene Worte, die ich für Joschis Komposition geschrieben hatte: Wenn ich nicht mit dir sein kann, und Sand die Körper bedeckt, werden wir uns sehen, wo der Mohn tanzt, dort, wohin sein Schatten fällt.«
Der »Todestango« wurde im KZ Janowska bei Lemberg nachweisbar unter anderem bei Hinrichtungen gespielt, auch Paul Celans »Todesfuge« geht darauf zurück. Wynnytschuks Roman wurde in der Ukraine kontrovers diskutiert. Historiker werfen dem Autor faktische Fehler vor. Tatsächlich ist die im Roman eingenommene Perspektive ambivalent. Wynnytschuk liebt die Provokation. Doch ist seine Darstellung weder moralisierend noch klischeebeladen, sondern komisch im Schwejkschen Sinne. Alle kriegen ihr Fett ab: Polen, Deutsche, »Sowjetmenschen«, Juden, ja sogar die Lemberger mit ihrer Vorliebe für das Horten von Ramsch.
Dass die Gegenwartshandlung teilweise flach wirkt, das Ende nach zwei Dritteln des Romans zu erahnen ist und sogar dass der Ausgangsplot komplett konstruiert und unrealistisch wirkt, all das stört nicht einmal, weil ein so fulminanter, opulenter Roman entstanden ist. Dem Übersetzer Alexander Kratochvil gelingt es grandios Dia- und Soziolekte, Milieusprache und Wortspiele zu übertragen.
Bisher bestimmte Vergessen und Verdrängen das ukrainische Erinnern an die Zwischenkriegszeit. Wynnytschuk bricht somit ein Tabu: Der Mohn des Vergessens hat ausgedient. Jurij Wynnytschuks Roman Im Schatten der Mohnblüte ist der erste Ansatz einer Aufarbeitung dieses traumatischen Kapitels der Geschichte und der erste Roman, der aus ukrainischer Perspektive von der Shoa und dem Erinnern daran erzählt. Als counter narrative schließt sich Wynnytschuks Roman dem neuen ukrainischen Diskurs an, der eine Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses initiiert.
Titelangaben
Wynnytschuk, Jurij: Im Schatten der Mohnblüte
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2014
456 Seiten. 22,90 Euro