Selbstzweifel des tapferen Ritters

Roman | Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe

Gleich auf den ersten Seiten wird man auf faszinierende Weise in die Handlung von Bernhard Schlinks neuer Roman Die Frau auf der Treppe geradezu hineingerissen – meint PETER MOHR

Schlink»Können Sie das? Einen Vertrag machen, dass ich das Bild wiederkriege und er Irene?« Mit dieser Frage wird der Ich-Erzähler, ein Rechtsanwalt, konfrontiert. Sein Gegenüber ist ein aufstrebender Maler, dem einmal die deutlich jüngere Frau eines erfolgreichen Unternehmers unbekleidet auf einer Treppe als Modell fungierte und die später auch seine Lebensgefährtin wurde. Das Bild im Tausch gegen die Lebensgefährtin, hier begegnen wir höchst eigenwilligen Figuren in extrem zugespitzten Situationen.

So weit der erzählerische Rahmen des neuen Romans des gerade 70 Jahre alt gewordenen Bernhard Schlink, der während seiner akademischen Laufbahn als Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der TU Berlin 1995 den Weltbestseller Der Vorleser veröffentlicht hatte. Das erste deutsche Buch, das auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times stand und inzwischen in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden ist.

Auch dieser neue Roman (wie bei Schlink üblich) bewegt sich wieder auf dem schmalen Grat zwischen Recht und Moral, diesmal noch angereichert durch jede Menge Gefühle, denn zwischen der Hauptfigur, dem Maler Karl Schwind und dem steinreichen Unternehmer Peter Gundlach entsteht ein mehr oder weniger offen ausgetragener Kampf um die Gunst der »Frau auf der Treppe«, der charismatischen, leicht egozentrischen und kühl berechnenden Irene Gundlach.

Der Streit um das Bild war eskaliert, als der Maler Schwind ein Werkverzeichnis erstellen und dazu die von Gundlach erworbene »Frau auf der Treppe« fotografieren wollte. Es entwickelt sich (wahrscheinlich von Gundlachs Eifersucht über den Verlust seiner zu Schwind »übergelaufenen« Ehefrau ausgelöst) ein Kleinkrieg zwischen den beiden Rivalen, an dessen Ende Gundlach das Kunstwerk sogar absichtlich beschädigt und Schwind den Zutritt verweigert.

Zunächst steht Schlinks Protagonist, der angesehene Frankfurter Rechtsanwalt, noch zwischen den Fronten und bemüht sich um eine juristisch saubere Lösung, doch peu à peu verliert für ihn der berufliche Aspekt seinen Reiz, und die großen Emotionen verwandeln den alleinstehenden Anwalt, der seine Frau einst durch einen tragischen Verkehrsunfall verloren hatte, in einen liebesblinden Kunsträuber. Der Ich-Erzähler gesteht Irene seine Liebe und lässt sich von ihr zum Diebstahl des Kunstwerks anstiften. »Ein tapferer Ritter kommt und rettet mich«, hatte Irene frohlockt. Alles klappt wie geplant – allerdings mit einer folgenschweren Ausnahme. Irene hält sich nicht an die Absprache und verschwindet allein mit dem Gemälde.

Urplötzlich stehen gleich drei Männer ziemlich dumm da, von Irene an der Nase herumgeführt und um das Kunstwerk betrogen. »Ich war verletzt, traurig, wütend«, resümiert der Protagonist, der sich als Jurist und als Mann in seinen Emotionen betrogen fühlt.

Bernhard Schlink erzählt diesen Roman auf verschiedenen Zeitebenen. Beim Einstieg ist Karl Schwind siebzig Jahre alt und bereits ein weltweit bekannter Künstler, für dessen Bilder horrende Summen gezahlt werden. Der Anwalt hatte die Eskapaden um das Gemälde längst vergessen, als er jenem verschollen geglaubten Bild von der »Frau auf der Treppe« plötzlich in einem Museum in Sydney gegenüberstand. Der einstige Eifer wird neu entfacht, er engagiert einen Detektiv, der herausfindet, dass Irene seit mehr als zwanzig Jahren in Australien lebt: eingereist als Touristin, illegal ohne Anmeldung und Krankenversicherung, den Lebensunterhalt durch eine Kreditkarte bestreitend.

Wie schon im Vorgängerroman Das Wochenende (2008), in dem ein nach langer Haftzeit entlassenes RAF-Mitglied im Zentrum stand, setzt Bernhard Schlink auch nun auf einen tragischen Schluss. Wie Ex-Terrorist Jörg ist auch Irene todkrank. Lässt man Gnade vor Recht ergehen? Und fällt das Verzeihen für die Fehltritte so erheblich leichter? Der Leser bleibt ob dieser gewollt komplizierten Konstellation jedoch mit höchst ambivalenten Gefühlen zurück.

Der Anwalt trifft die von ihrer Krankheit schon schwer gezeichnete Irene auf einer kleinen Insel vor der australischen Küste, wo sie sich in einem beinahe archaíschen Ambiente Problemkindern widmete. Mit den Worten »mein tapferer Ritter« empfing Irene den Anwalt auf dem fünften Kontinent. Eine neuerliche Offenbarung großer Gefühle gibt es nicht mehr. Irene ist trotz ihrer fortgeschrittenen Krankheit immer noch die selbstbewusste Frau und leicht exaltierte Welterklärerin. Sie erteilt ihrem Besucher einen kunstgeschichtlichen Nachhilfeunterricht und interpretiert dabei Schwinds Bild als Antwort auf Marcel Duchamps kubistische Treppenfigur. Für den Anwalt verschwimmen die Grenzen zwischen Kunst und Leben immer mehr. Hat er sich vielleicht in das Kunstwerk stärker verliebt als in die reale Irene?

Am Ende bleiben in Bernhard Schlinks wunderbar unangestrengt erzähltem Roman über Recht und Moral, über große Gefühle und herbe Enttäuschungen nur Verlierer zurück. »Mein Leben fühlt sich wie eine Vase an, die auf den Boden gefallen und in Stücke zersprungen ist«, befindet der gefrustete Anwalt über sein Seelenleben. Auf der letzten Seite begegnen wir ihm in Frankfurt am Grab seiner Frau – in sich gekehrt, von tiefen Selbstzweifeln geplagt, ein beinahe gebrochener Mann.

| PETER MOHR

Titelangaben
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe
Zürich: Diogenes Verlag 2014
244 Seiten. 21,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein It Girl mit Fehlern

Nächster Artikel

Unsterbliche Freundschaft

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Japan liegt an der Ostsee

Roman | Christoph Peters: Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln Hatte der Autor Christoph Peters die Absicht, einen Roman über eine aussterbende Berufsgattung zu schreiben? Oder gibt er der Agentur für Arbeit Tipps für Berufsinformation einmal anders? Jedenfalls wählt Peters in seinem neuen Roman ›Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln‹ – wie zuvor schon in ›Mitsukos Restaurant‹ (2009) – erneut ein kulturell etwas abseitiges Thema, den fast ein wenig marginal erscheinenden Beruf des japanischen Zen-Töpfers. Der Autor blickt dabei mit viel Humor auf diese alte fernöstliche Handwerkstradition, die sich ein deutscher Wandergeselle mit gewerkschaftlich erkämpften Rechten nicht freiwillig aussuchen würde. Was Peters uns in

Alte Liebe neu entdeckt

Roman | Debra Jo Immergut: Die Gefangenen

Eine Liebesgeschichte? Ein Einblick in therapeutische Verstrickungen? Einfach nur eine Lektüre, die man schnell hinter sich bringt? Es ist von allem etwas, dennoch bleibt am Ende ein etwas enttäuschendes Gefühl, man hatte einfach mehr erwartet, so jedenfalls ging es BARBARA WEGMANN bei der Lektüre von Debra Jo Immerguts neuem Roman Die Gefangenen.

Wer ist Frank Pike?

Roman | Peter Mann: Der Ire

Eigentlich hat ihn der deutsche Abwehr-Mann Adrian de Groot – von Hause aus Philologe, Literaturkenner und Übersetzer – 1940 aus einem spanischen Gefängnis nach Berlin geholt, damit er eine wichtige Rolle bei der geplanten deutschen Invasion Großbritanniens spielen kann. Denn Proinnsias Pike war gut vernetzt in der irischen IRA-Szene, bevor er sich den Internationalen Brigaden in Spanien anschloss und dort in Gefangenschaft geriet. Nun könnte er den Nazis von Nutzen sein, die sich auf der Suche nach Verbündeten auf der Insel befinden und dazu auf die jahrhundertealte Abneigung der Iren gegenüber den Engländern aufzubauen gedenken. Der Plan ist gut überlegt – aber haben sich die Deutschen tatsächlich den Richtigen für seine Umsetzung ausgesucht? Von DIETMAR JACOBSEN

Beton, Biker und ein Psychopath

Roman | Scott Thornley: Der gute Cop
Detective Superintendent Iain MacNeice genießt den Ruf, der beste Cop der Mordkommission von Dundurn zu sein. Der Witwer und passionierte Grappa-Trinker ist einfühlsam, unkonventionell in der Wahl seiner Methoden und immer ein kleines Stückchen schneller als seine Mitarbeiter, wenn es gilt, Schlüsse zu ziehen. Als zwei rivalisierende Biker-Gangs einen blutigen Krieg anfangen, sechs Leichen aus dem Hafenbecken der fiktiven, am Ontariosee gelegenen kanadischen Stadt geborgen werden und obendrein ein perverser Frauenmörder damit beginnt, die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen, ist das aber auch für MacNeice fast zu viel. Doch zum Glück muss er ja nicht allein gegen das Verbrechen antreten. Von DIETMAR JACOBSEN

Chastity Riley und die rekonvaleszenten Bullen

Roman | Simone Buchholz: River Clyde

Nach ihrem Einsatz in der hoch über Hamburgs Innenstadt gelegenen Bar des River Palace Hotels hat Chastity Riley der Blues gepackt. Aber gerade jetzt ruft sie der Brief eines Glasgower Anwalts nach Schottland. Von hier ist ihr Ururgroßvater Eoin Riley einst nach Amerika aufgebrochen. Und während »die Letzte der Rileys« zwischen verschiedenen Pubs und dem ihr Abenteuer mit seinem melodischen Rauschen begleitenden Fluss Clyde ihrer Vergangenheit begegnet, stellen ein paar gierige Immobilienmakler St. Pauli auf den Kopf und beschäftigen ihre Hamburger Freunde und Bekannten. Aber auch die sind in Gedanken mehr in der Ferne als vor Ort. Von DIETMAR JACOBSEN