Diesseits und jenseits der Linie zwischen Leben und Tod

Comic | Laurent-Frédéric Bollée / Christian Rossi: Deadline

Ein klassischer Western-Comic in leuchtenden Farben, angereichert mit Drama und Poesie: ›Deadline‹ überschreitet vielleicht keine Gattungsgrenzen, ignoriert aber gängige Genrecodes. Von CHRISTIAN NEUBERT

deadline_cover-1Hartsville, Tennessee, Dezember 1901: Louis Paugham stapft durch die sandigen Straßen. Er bewegt sich zielstrebig, sein Blick ist entschlossen, sein Hut tief ins Gesicht gezogen. Sein Ziel: Das Haus des ehemaligen Generals John C. Lester. Paugham ist hier, um Rache zu üben. Rache für das, was er als junger Konföderierter unter Lesters Kommando erleben musste…

So weit, so klassisch. Bereits nach wenigen Seiten Lektüre ist klar, dass ›Deadline‹ über sämtliche Zutaten eines gestandenen Westerns verfügt: Schweigsame Kerle mit locker sitzendem Colt, Mäntel und Pferde, eindeutige Feindbilder, Szenarien, die den Staub der Prärie atmen. Schnell gestatten Bollée und Rossi ihren Lesern jedoch Rückblicke – und der Band versetzt einen sowohl in die Wirren des Sezessionskriegs, genauer: nach Georgia anno 1864, als auch in jene Zeit, in der sich ein reisender Bürgerrechtler dem gerade zum Waisenkind gewordenen Louis annimmt.

Das Grauen des Kriegs im Staub der Prärie

Gerüstet mit Informationen vom gewaltsamen Tod seiner Eltern und über seinen Ziehvater, der sich gegen die Sklaverei stark macht, sieht man Paugham schließlich als Siebzehnjährigen in einem Gefangenenlager Wachdienst schieben. Er, der die Uniform der Südstaaten trägt, scheint falsch aufgehoben zu sein. Das ändert jedoch nichts daran, dass er abkommandiert wird, um einen Gefangenentrupp in ein Ausweichlager zu begleiten: Die Unionstruppen sind auf dem Vormarsch, weswegen das eigentliche Lager aufgelöst wird.

Unterwegs mit dem Gefangenentrupp erhält Paugham den Befehl, die erste Nachtwache zu übernehmen. Wie bereits im Lager trennt eine in den Boden gezogene Linie Gefangene von Wächtern – und wer sie übertritt, ist des Todes. Ein Gewitter erschwert zwar die Sichtverhältnisse und dadurch Paughams Aufgabe. Dennoch verläuft der Wachdienst ereignislos. So scheint es zumindest: Erst der aufkommende Morgen offenbart, dass doch nicht alles glatt gelaufen ist. Der einzige schwarze Gefangene der Truppe ist weg, es fehlt jede Spur. Und Paugham wird klar, dass er nicht als Wachmann versagt hat, dass er selbst keine Schuld am Verschwinden trägt…

Klassischer Kost mit exotischer Würze

Bollée greift einen geradlinigen Westernstoff auf, um ihn durch Ausflüge ins Dramatische, mit Elementen einer ungewöhnlichen Love-Story und manchmal gar mit Anflügen poetischer Anmut zu durchkreuzen. Das mündet zwar nicht unbedingt in einem außerordentlichen Erweckungsmoment, wie ihn z.B. Jim Jarmusch mit ›Dead Man‹ leistete. Aber es steht dem Band definitiv gut – vor allem in Kombination mit Rossis detailreichen Zeichnungen, deren dem Realismus verpflichtete Aquarellkolorierung viel zur Stimmung beiträgt. Die Farbgebung macht die gleißende Sonne des Südens spürbar, lässt einzelne Strahlen durch den notwendigen Schatten treten und filtert sie durch Staub, Rauch und Gewitterwolken. Das Ausmaß der Tragödie, die »Deadline« anhand Paughams Leben beschreibt, wird jedoch ungefiltert serviert. Gut so.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Laurent-Frédéric Bollée / Christian Rossi: Deadline
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
Bielefeld: Splitter 2014
80 Seiten. 17,80 Euro

Reinschauen
| Leseprobe auf der Verlagswebseite

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nicht nur Kraut und Rüben

Nächster Artikel

Auf der Suche nach der »Nazi-Persönlichkeit«

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Crumb sei Dank

Comic | Robert-Crumb-Special Comic-Heroe Robert Crumb hat dieses Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert – ein Anlass, der Comic-Deutschland eine Neuauflage bereits erschienener Werke und einen schönen Tribut-Band bescherte. CHRISTIAN NEUBERT hat sich zwischen die massigen Schenkel des Crumb’schen Figurenkosmos gezwängt – und viel mehr entdeckt als skandalträchtiges nacktes Fleisch.

Die Leere einer Welt und das Meer drumherum

Comic | Chabouté: Ganz allein In filmischen Panelfolgen schildert Chabouté eine Geschichte von Einsamkeit und Hoffnung, von Aufbruch und Stillstand. Daneben ist sein Ganz allein eine Ode an die schöpferische Kraft der Phantasie. Von CHRISTIAN NEUBERT

Sex and Crime in der Stadt der Engel

Comic | Stephen Desberg (Text) / Alain Quereix (Zeichnungen): Miss October Bd. I und II Ein Serienmörder, der seine Opfer Playmate-gleich inszeniert und L.A.-Cops mit Dreck am Stecken, grafisch transportiert auf den Spuren der Pin-Up-Ästhetik: Die ersten beiden ›Miss October‹-Bände machen Lust auf’s Finale. Von CHRISTIAN NEUBERT

Ein moderner Robin Hood?

Comic | Andy Diggle (Texte), Jock (Zeichnungen): Green Arrow. Das erste Jahr Eigentlich inspiriert die Geschichte von Robin Hood, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt, nur noch Kinder. 1941 schufen jedoch Mort Weisinger und George Papp den Comic-Superhelden »Green Arrow«, der, nach dem Exempel von Robin Hood, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, das Böse in Form von Kriminellen mit Schusswaffen, spielend leicht besiegt. Dies führte auch zur prominenten Adaption des Helden in der neueren US-amerikanischen TV-Serie ›Arrow‹. Von PHILIP J. DINGELDEY

Profis am Werk

Comic | Zum Abschuss freigegeben/Dieb der Diebe Wenn Meisterdiebe oder Profikiller die Hauptfiguren von Kriminalgeschichten sind, dann haben sie meistens nur einen Wunsch: Einen letzten, großen Job zu erledigen und sich anschließend zur Ruhe zu setzen. Daraus wird dann entweder ein glanzvolles Kabinettstückchen oder eine komplette Katastrophe, beides sehr zur Befriedigung des Lesers.