/

Auf der Suche nach der »Nazi-Persönlichkeit«

Menschen | Jack El-Hai: Der Nazi und der Psychiater

Autorenglück ist, wenn sich eine heiße Story als Matrjoschka entpuppt, aus der während der Recherchen eine zweite, mindestens genauso heiße Story kullert. So ging es dem US-amerikanischen Journalisten Jack El-Hai bei den Vorarbeiten zu seinem Buch über Walter Freeman, ›The Lobotomist‹ (2005). Der Psychiater und Neurologe Freeman hatte der Lobotomie als Mittel gegen psychische und sonstige Störungen zur Popularität verholfen und sich nebenbei für von eigener Hand gestorbene Kollegen interessiert. Insbesondere für einen: Douglas Kelley, heute nur noch Fachkreisen geläufig, aber um die Mitte des letzten Jahrhunderts ein Star. El-Hai horchte auf, nicht so sehr wegen der Tatsache, dass sich ein Psychiater selbst getötet hatte. Es war der modus operandi dieses Suizids, der ihn reizte. Von PIEKE BIERMANN

Jack El-Hai: Der Nazi und der PsychiaterDr. Kelley hatte am Neujahrstag 1958 Zyankali geschluckt: vor den Augen seiner Frau, mit der er sich kurz vorher wieder mal lautstark gestritten hatte, seines ältesten Sohns, damals 10, und seines Vaters. Eine bizarre Inszenierung. El-Hai fängt sofort Feuer. Dieser Suizid kommt ihm vor wie eine makabre Parallelaktion: Ganz ähnlich hatte es zwölf Jahre zuvor Kelleys berühmtester »Fall« vorexerziert – Hermann Göring. Er macht sich auf die Suche nach jenem Sohn, findet ihn, und tatsächlich gewährt Doug Kelley ihm Zutritt zum Nachlass seines Vaters. Jahrzehntelang hatte niemand die vier als ›Nuremberg Papers‹ etikettierten Kisten voller Krankenberichte, Notizen und allerlei Nazi-Memorabilien angerührt. »Die Sammlung verströmt den Geruch von Tabak, trockenem Papier und verblassten Fotos. Darin enthalten sind auch drei kleine Kästchen, etwa so groß wie Schmucketuis. Sie umschließen außergewöhnliche Juwelen: Das erste enthält eine Reihe von Abbildungen von Robert Leys Gehirn; das zweite birgt sechs papierene Päckchen, deren rote Wachssiegel ungebrochen sind und Zucker, Schokolade und andere Lebensmittel einschließen, in denen Rudolf Heß Gift vermutete; im dritten Kästchen liegt auf einem Baumwollbett ein Glasfläschchen mit etwa 100 weißen Paracodintabletten – ein Teil von Hermann Görings Privatapotheke.«

In einer Kiste findet El-Hai handschriftliche Notizen und ein Porträtfoto des ehemals Zweiten Mannes im Nazistaat samt Widmung: »Major Dr. Kelley in aufrichtiger und herzlicher Dankbarkeit«. Kelley hatte Göring von der Opiatsucht befreit, und von den Fettmassen gleich mit. Das war Teil des Auftrags, mit dem er vom Geheimdienst der US Army 1945 in den »Ashcan« (Aschenkasten) geschickt wurde, das zum kargen Knast entkernte Palasthotel von Mondorf-les-Bains. Hier in Luxemburg saßen außer Göring Männer wie der Großadmiral Dönitz, die Wehrmachtschefs Keitel und Jodl, Hans Frank, der blutige Herrscher in Polen, der Reichsbanker Hjalmar Schacht, die antisemitischen Chefideologen Rosenberg und Streicher zunächst ein: die 22 höchstrangigen Nazibonzen, denen in Nürnberg der Prozess gemacht werden sollte. Und Kelley hatte, als Leiter der psychiatrischen Abteilung, erstens ihren geistigen Zustand zu begutachten und zweitens dafür zu sorgen, dass sie gesund und lebendig vor Gericht erscheinen konnten. Der hochbegabte und hochambitionierte junge Psychiater hatte aber drittens noch eine eigene Agenda: die Suche nach dem eventuellen gemeinsamen psychisch-mentalen Nenner für »Das Böse« schlechthin. Die Frage, die ihn umtrieb, war: Gibt es so etwas wie eine »Nazi-Persönlichkeit«?

Kelley selbst ein psychiatrischer Fall

Ausgehend von der einmaligen Trouvaille recherchiert El-Hai Kelleys Familiengeschichte, die Zeitumstände und die Entwicklung der Psychoforschung in den USA. Sein Buch ist eine beeindruckend detaillierte Charakterstudie. Er stößt auf erstaunliche Parallelen zwischen Kelley und Göring: Beide haben etwas alphatierhaft Größenwahnsinniges und neigen zu Gefallsucht und zu sprunghafter Gewalttätigkeit. Kelley wird nach dem Krieg weltberühmt als »Nürnberg-Psychiater« und zum Starautor: Sein Buch ›22 Cells In Nuremberg‹ erscheint 1947 im Original und auf Deutsch in der Schweiz. Er ist als forensischer Psychiater und Kriminologe im Fernsehen und macht Furore mit allem, was damals – vor der Erfindung der Psychopharmaka – in den USA en vogue war. Auch mit allerlei Tinnef, von Zaubern über Rorschach bis Allgemeine Semantik. Nicholas Ray legt ihm das Drehbuch zu Rebel Without a Cause zur Begutachtung vor, und für seinen Sohn Doug war Kelley »eine Kreuzung aus einem Wissensschwamm und einem wildgewordenen Bullen, ein Universalgenie auf Speed«.

El-Hai reflektiert die gefährliche Nähe, im schlimmsten Fall Vertraulichkeit und Komplizenschaft, die lange, intensive Gespräche erzeugen können. Kelley selbst ist die Gefahr durchaus bewusst. Solange er auf dem Höhepunkt ist, kann er sie kontrollieren. Als seine Position ins Wanken gerät, wird er Göring auf gespenstische Weise noch ähnlicher: Er wird zum Workaholic und unter dem Stress fett, er haut sich mit Schmerzmitteln voll, er irrlichtert durch die Öffentlichkeit mit aggressiven Ansagen – erklärt, bis zu 50 Prozent aller Streifenpolizisten für »emotional labil, geistig minderbemittelt«, wenn nicht gar »paranoid, sadistisch und wahnsinnig« –, er säuft und wird gewalttätig gegenüber Frau und Kindern, kurz: zum psychiatrischen Fall.

Spannender Schmöker über eine historische Figur

Auslöser dieser Entwicklung und buchstäblich lebensgefährlich war womöglich die Erkenntnis, die Kelley aus den Untersuchungen der Nazis damals im Ashcan gewinnen musste: Auch die grausamsten Nazis sind nicht geisteskrank, sondern ansonsten normale, sogar nette Leute. Es gibt keine Nazipersönlichkeit, die sich dingfest machen und also ausrotten ließe. Eine zu schlimmsten Gräueln fähige Persönlichkeit steckt in uns allen. Uns Heutige haut diese Erkenntnis nicht mehr um. Kelly dagegen hat sie lange vor Hannah Arendts ebenso verstörender Eichmann-Studie und Milgrams Stromstoß-Experiment ereilt und ihm, so El-Hais sehr plausible Vermutung, das Genick gebrochen und seinen Suizid motiviert. »Durch seine Giftwahl setzt Kelley seinen Tod zu dem von Göring in Beziehung und beschwört die Figur des in die Ecke gedrängten Helden herauf. Dass Kelley sich Zyankali besorgt hatte, weist darauf hin, dass er in Erwartung eines persönlichen Schicksals lebte, das für ihn schlimmer war als der Tod. So wie Görings überhöhtes Selbstbild es ihm nicht erlaubte, den entwürdigenden Tod durch den Strang zu akzeptieren, so konnte Kelley die Vorstellung nicht ertragen, einst vielleicht als ein jeden Lobes und jeder Anerkennung unwürdiger Stümper betrachtet zu werden.« Dass beide Männer »Zyankali wählten, ist kein Zufall: Kaum ein Gift hat einen vergleichbar dramatischen Effekt.«

Der Nazi und der Psychiater ist leider etwas ungelenk übersetzt und nicht ganz grammatikfest korrekturgelesen, El-Hai schreibt auch deutlich für ein US-amerikanisches Publikum, wodurch manche Passagen über Göring und Nazipolitik und -staat auf europäische Leser leicht unterkomplex wirken. Trotzdem ist sein Buch ein spannender Schmöker über eine historische Figur und über eine Epoche psychowissenschaftlicher Theorie und Praxis, die noch gar nicht so lange vergangen ist.

| PIEKE BIERMANN

Eine erste Version der Rezension wurde am 30. September 2014 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.

Titelangaben
Jack El-Hai: Der Nazi und der Psychiater
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henriette Heise
Berlin: Die Andere Bibliothek 2014
318 Seiten. 38 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Diesseits und jenseits der Linie zwischen Leben und Tod

Nächster Artikel

Wider die soziale Ungleichheit

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Schreiben ist kein Beruf

Menschen | 100. Geburtstag von Ilse Aichinger

»Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müsste man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin«, argwöhnte Ilse Aichinger in einem Interview mit der ›Zeit‹ anlässlich ihres 75. Geburtstages. Von PETER MOHR

Gedanken eines Verzweifelten

Menschen | Werner Otto Müller-Hill: »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert«. Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45 Er sah, wie das eigene Volk sich ins Verderben stürzte, er begriff die Hybris und den Wahnsinn der nationalsozialistischen Führung, er fühlte die Schuld, die das braune System auf sich lud – und war dennoch Teil der militärischen Elite. Werner Otto Müller-Hill beschreibt in seinen Kriegstagebüchern, wie er versuchte, aufrecht zu bleiben. »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert« ist ein beklemmendes Zeitdokument, dessen analytische Schärfe verblüffend ist. Von VIOLA STOCKER

»Die Federn des Carl Barks«

Comic | ›Disney‹-Zeichner Ulrich Schröder im Interview 17 Jahre lang hat Ulrich Schröder als Art Direcor für ›Disney‹ gearbeitet. Dabei hat er nie eine Zeichenausbildung absolviert – und seine Liebe zu Comics entsprang einem Unfall. Parallel zur Veröffentlichung des deutschen ›Micky Maus Magazins 7/8 2017‹, für das er das Covermotiv beisteuert, sind seine Werke in Würzburg zu sehen. CHRISTIAN NEUBERT traf Ulrich Schröder zum Interview.

Staunen und Schrecken der Welt

Menschen | Olaf B. Rader: Friedrich II Kein deutscher Kaiser hat mehr nachdenkendes Interesse hinterlassen, als der letzte Stauferkaiser, Friedrich II., der »Schwabe« in Sizilien, wo er auch – im Dom von Palermo – begraben ist. In Jesi, der Weinstadt in den italienischen Marken, wurde er 1194 geboren (auf einem öffentlichen Platz, behauptet man dort noch heute stolz). Vier Jahre später wurde das Kind zum König von Sizilien, mit siebzehn (1211/12) immerhin schon zum deutschen König und von 1220 bis zu seinem Tod 1250 war er Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Von WOLFRAM SCHÜTTE

In Memoriam Dieter Schnebel

Menschen | Zum Tod des Komponisten Dieter Schnebel Der Komponist und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel lebte von 1930 bis 2018. Bis 1930 lebte Wladimir Wladimirowitsch Majakowski. ›Majakowskis Tod‹ heißt eine Oper von Dieter Schnebel, die 2006 in München im Staatstheater am Gärtnerplatz inszeniert wurde. Von TINA KAROLINA STAUNER