Schreiben mit einer Lupe

Menschen | Zum 80. Geburtstag des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas

»Ich las in jungen Jahren Jung und Freud und rutschte dann in eine Selbstanalyse hinein. Das dauerte etwa vier, fünf Jahre, von denen anderthalb aus nichts anderem bestanden als aus dieser Arbeit und dem Erdulden ihrer Ergebnisse. Das war am Rande des Wahnsinns«, hatte der ungarische Schriftsteller Péter Nádas in einem Interview mit dem Digitalmagazin ›Republik‹ aus der Schweiz erklärt. Von PETER MOHR

Ein Porträtfoto des Autos Péter NádasNádas ist ein Mann der Extreme und mit konventionellen Maßstäben kaum zu messen. Er liebt seine Geburtsstadt Budapest ebenso wie die Abgeschiedenheit seines Dorfes Gombosszeg, wo er seit mehr als dreißig Jahren lebt, er ist einer der großen gebildeten Enzyklopädisten und tritt dennoch vornehm zurückhaltend auf, er schreibt keine zeitgeistkonforme Fast-Food-Literatur, sondern opulente Wälzer, die nicht gelesen, sondern erobert werden müssen.

Péter Nádas, der am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren wurde und früh seine Eltern verloren hat, liebt die Herausforderungen: »Ich muss beim Schreiben abtasten, wo das Menschliche und das Tierische liegen, das Egoistische oder Individuelle und das Kollektive. Es kann sein, dass dabei ein Eindruck von Freiheit im Sinne einer bestimmten Romanauffassung entsteht. Es war mir wichtig zu sehen, wo die Grenzen eines Menschen liegen.«

Eine ganz eigene, schreckliche Grenzerfahrung (neben seinen familiären Erinnerungen an den Holocaust) machte Nádas im April 1993, als er in Budapest auf offener Straße zusammenbrach und sein Herz für mehr als drei Minuten stillgestanden hatte. Seitdem habe sich seine Einstellung zum Tod völlig verändert. Im Buch ›Der eigene Tod‹ beschreibt Nádas, dass er einen mysteriösen Zustand durchlebt, »auf den Grund des Lebens gesehen und das Wesen der Dinge erkannt« habe. Vielleicht hat die »zwanghafte geometrische Ordnung«, die Nádas seinem eigenen Werk attestiert, in diesem Schwellenerlebnis ihre Wurzeln. »Ich beschäftige mich nicht mit Problemen. Mich interessieren vielmehr Handlungen, Abläufe, Prozesse, und dabei auch nicht besonders die Ereignisse, sondern hauptsächlich die Strukturen«, hatte Nádas sein künstlerisches Credo konkretisiert.

18 Jahre lang hat Péter Nádas an seinem opulenten Mammut-Roman ›Parallelgeschichten‹ (dt.: 2012) geschrieben. Ein großes Zeitzeugnis in 39 bewegenden Kapiteln, ein hochartifizielles deutsch-ungarisches Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts. Péter Nádas, der seit seinem großen Roman ›Buch der Erinnerung‹ (1985) immer wieder (und nicht zu Unrecht) als Nobelpreiskandidat gehandelt wird, weiß genau, wovon er schreibt. Er ist ein Pendler zwischen den Welten, lebte in Budapest, Salzburg und Berlin, ehe er sich mit seiner Frau, der Journalistin Magda Salomon in der ungarischen Provinz (4 Bahnstunden von Budapest entfernt) niedergelassen hat.

Während sich in seinem ›Buch der Erinnerung‹ vor knapp 30 Jahren noch alles um ein bürgerliches Ich drehte, ging es bei Nádas später um die Polyphonie, um die Parallelität unterschiedlichster Stimmen und Perspektiven. »Der Individualität sind die Reserven ausgegangen«, hatte der Autor einmal in einem Interview erklärt.

Eine Fotografie des VollmondsIn seinem neuen Roman ›Schauergeschichten‹ beleuchtet er das Leben in der Provinz – in den 1960er Jahren, als Angst und Verstörung den Alltag dominierten. »Besser schweigen, nicht darüber reden, damit das Schicksal nicht auch dich so heimsucht und bestraft, mein Kind«, heißt es an einer Stelle. Misstrauen, Neid, Armut, aber auch eine zumindest latente Fremdenfeindlichkeit bestimmen das Leben in dem bunten Figurenensemble, das von Menschen unterschiedlichster Provenienz bevölkert wird: »Er stammt doch aus Rumänien. Herr Pfarrer, Sie wissen besser als wir, wo Rumänien liegt. Einmal Rumäne, immer Rumäne.« Wie mit einer Lupe vergrößert uns Nádas das Leben in jener Epoche und seziert so die schwelenden Katastrophen – im privaten wie im politischen.

Péter Nádas, der als junger Mann zunächst Chemie studiert hatte und sich dann als Fotograf und Journalist betätigt hatte, ist ein akribischer Genauigkeitsfanatiker, der seine erzählerischen Wurzeln bei den bedeutenden Romanciers des 19. Jahrhunderts, aber eben auch bei Sigmund Freud, dem Erkunder des Unbewussten, hat.

Außerdem ist pünktlich zum Geburtstag auch noch ein schmaler, höchst interessanter Band mit klugen Essays erschienen, in denen Nádas Auskunft über die Literatur und die Fotografie gibt.

Die Galerie Peter Sillem in Frankfurt (Dreieichstraße 2) zeigt noch bis zum 22. Oktober unter dem Titel ›Nachtbilder, Stilleben‹ Fotografien von Péter Nádas.

Am 24. Oktober wird Nádas in Stockholm mit dem mit umgerechnet 72000 Euro dotierten Berman-Literaturpreis ausgezeichnet.

| PETER MOHR
| FOTO: Heike Huslage-Koch, Péter Nádas auf der Frankfurter Buchmesse 2017 1, CC BY-SA 4.0

Lesetipps
Péter Nádas: Schauergeschichten
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer
Hamburg: Rowohlt Verlag 2022
576 Seiten, 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe

Péter Nádas: Schreiben als Beruf
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh und Heinrich Eisterer
Hamburg: Rowohlt Verlag 2022
96 Seiten, 18 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe

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