Jugendbuch | Meg Rosoff: Was ich weiß von dir
Wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, verständigen wir uns nicht nur mit Worten. Kommunikation besteht aus viel mehr. Aus Gesten, Mienenspiel, Körperhaltung. Einfluss nimmt das jeweilige Geschlecht, Alter, die Lebenserfahrung. Die Kommunikation ist ein Code, ihn vollständig zu entschlüsseln heißt, einen Menschen durch und durch kennenzulernen. Meg Rosoff setzt ihre junge Heldin dem Abenteuer des Dechiffrierens aus. Mit allen Folgen. Von MAGALI HEISSLER
Mila ist zwölf, ihre Eltern Ende fünfzig. Mila fühlt sich gleichwertig mit den Erwachsenen, sie sind eine Dreiergemeinschaft, Mila, Mareike und Gil. Ihr Vater ist Übersetzer, die Mutter Violinistin, Mila spricht professionell von ihren Berufen, von Problemen des Übersetzens, von Konzertreisen. Wenn sie überhaupt eine eigene Rolle hat in der Gruppe, dann die der Aufpasserin für ihren Vater, der mit dem Kopf mehr bei seinen Büchern ist als im Alltag.
Ihr Vorname ist Folge einer solchen geistigen Abwesenheit ihres Vaters, glaubt Mila. Vor langer Zeit hieß ein Hund in der Familie einmal so. Sie mag den Gedanken, den Namen eines Hundes zu tragen, weil sie die Eigenschaften solcher Tiere an sich zu erkennen glaubt. Sie ist treu, ehrlich, aber sie gräbt auch gern Verborgenes aus, folgt Spuren und hat einen überaus scharfen Wahrnehmungssinn.
Mit ihrer Freundin Catlin spielt sie seit Jahren ein erfundenes Spionageabenteuer. Dazu gehört ein eigens entwickelter Code, Kennwörter, Kennsätze. Sie haben eine geheime Organisation, klar strukturiert von den einfachsten Arbeitsbereichen bis in die Leitungseben. Die geheime Welt der beiden Mädchen ist nicht geheimnisvoll, sondern eindeutig und damit beruhigend. Alle Geheimnisse lassen sich entschlüsseln.
Als Milas Vater mit ihr zusammen einen alten Freund im Staat New York besuchen will, geschieht etwas Unerwartetes. Der Freund ist verschwunden. Für Mila ist die Sache klar, jedes Geheimnis lässt sich aufklären. Sie übersieht nur, dass es sich dieses Mal nicht um ein Spiel handelt.
Die Wahrheit ausgraben
Mit dieser Geschichte bearbeitet Rosoff wieder einmal ihre bevorzugten Themen, allen voran der Vorstellung des gefährlichen Labyrinths, das die Welt der Erwachsenen für Kinder und Jugendliche darstellt. Hier hat es die Form eines mysteriösen Spruchs aus eigenartigen Wörtern, deren Bedeutung man nacheinander herausfinden muss, damit man am Ende das große Rätsel lösen kann. Sprachen, Wörter, Übersetzen, sich verständlich machen, etwas mit einem fremden Wort ausdrücken, wofür es in der Muttersprache keinen Ausdruck gibt, bis hin zur Frage, wie man sich verständlich macht, all das taucht immer wieder auf. Durchgespielt wird es ernst, philosophisch, spielerisch, lustig, sogar ironisch, etwa, wenn die Menschen, denen Mila in den USA begegnet, unweigerlich sagen: Mir gefällt dein Akzent.
Der Text spiegelt das wider, Dialoge und Erzählendes werden nicht streng voneinander abgegrenzt, Ausgesprochenes und Unausgesprochenes gehen ineinander über. Die Zeichen, was wie zu lesen ist, gibt der Kontext. Auch die Leserin darf gelegentlich dechiffrieren.
Mila sucht nach der grundsätzlichen Bedeutung dessen, was gesagt wird, kombiniert mit anderen Zeichen und dechiffriert unaufhörlich. Mit der ihr zugeschriebenen Hundenatur ist sie tatsächlich ein Terrier – die erste Mila war einer – auf zwei Beinen, schnüffelnd, suchend. Sie lässt nie ab, hat sie ihre Beute einmal gepackt, lässt sie diese nicht mehr los. Rosoff scheut sich nicht, auch auf die unsympathischen Seiten ihrer kleinen Heldin hinzuweisen. Sie ist vorlaut, altklug, besserwisserisch, mischt sich ungezogen ein, reagiert auf den Entzug von Aufmerksamkeit mit Eifersucht. Das zeigt, dass Mila bei all ihren ein wenig ins Übergroße gezeichneten empathischen Fähigkeiten eigentlich vor allem eines ist, ein Kind auf der Schwelle zum Teenager.
Wer sich in Gefahr begibt …
Milas Detektivinnenspiel, ihre Schnüffelei schlägt zurück. Sie wagt sich weit in die Erwachsenenwelt. Deren Schwierigkeiten erweisen sich als immens und damit erschreckend. Auf nichts ist Verlass, nichts ist klar und eindeutig, Gefühle sind ein einziges Durcheinander. Milas Autoreise zur Hütte des verschwundenen Freunds in den Wäldern an der kanadischen Grenze wird zu einer Reise in die Gefahr, in beunruhigende Nähe zum Herzen der Finsternis. Auch auf Mila wartet ein Augenblick des äußersten Schreckens, eine Erkenntnis, wozu die fähig sind, die man am meisten liebt.
Aufgebaut wird das ungemein geschickt über parallel fragmentarisch erzählte Geschichte von Milas Freundin Catlin, deren Eltern sich seit Jahren nicht verstehen und sich eben in den Ferienwochen trennen. Kurze SMS-Sätze, die über den Atlantik von Handy zu Handy fliegen, sagen alles, was die Leserin wissen muss, eine Meisterinnenleistung Rosoffs innerhalb einer grandios erzählten Geschichte.
Der Schrecken, der Mila in ihrem engsten Kreis widerfährt, eine Folge der Gefahr, in die sich begibt, tötet tatsächlich etwas. Das ist die altkluge, besserwisserisch-selbstgerechte Schnüffelnase, die geglaubt hat, wenn man nur alles weiß, sei alles gut. Zurück bleibt eine neue Mila, die die wahre ist. Zwölf Jahre alt, ein Kind auf der Schwelle zum Teenagerdasein, das sie durchlaufen muss mit all den Ängsten und dem Wissen um die Ängste, die noch kommen werden, die man aber lernen kann zu bewältigen, um wirklich erwachsen zu werden.
Übersetzt ist das Buch von Brigitte Jakobeit, so elegant und flüssig, dass man gar nicht merkt, dass man eine Übersetzung liest. Man hat ein organisches Ganzes in der Hand. Deswegen kann man auch genießen, was Rosoff geschaffen hat, nämlich Literatur, sprachlich wie denkerisch, für sehr junge Leserinnen.
Titelangaben
Meg Rosoff: Was ich weiß von dir
(Picture me Gone, 2013) Übersetzt von Brigitte Jakobeit
Frankfurt: Fischer KJB 2014
270 Seiten, 14,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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