Schöne neue Klon-Welt

Jugendbuch | Birgit Rabisch: Duplik Jonas 7

›Duplik Jonas 7‹ ist ein Jugendbuch, welches uns in eine nicht allzu ferne Zukunft in Europa mitnimmt, in der Genmanipulation, Klonen, Leihmutterschaft, Gen-Check-ups und vorgeburtliche Auswahl von Kindern an der Tagesordnung, ja sogar gesellschaftlich geboten sind. Im Zentrum des Romans stehen zwei Protagonisten namens Jonas, wobei der eine der »Duplik« des anderen ist, d. h. ein bei der Geburt hergestellter identischer Klon. Von FLORIAN BIRNMEYER

Duplik Jonas 7Dupliks, wie Jonas 7 einer ist, werden in der neuen Welt als Ersatzteillager für ihre menschlichen Pendants produziert und unterhalten. Braucht ihr Mensch ein Organ oder Körperteil, wird es den Dupliks entnommen und dem Menschen transplantiert, sodass dieser wieder ein funktionierendes Organ oder Körperteil besitzt. Dass sie eigentlich nur als Mittel zum Zweck dienen, wissen die Dupliks natürlich nicht. Sie werden in einem Hort hinter einer Mauer, strikt abgetrennt von der menschlichen Welt, gehalten, wo sie in Kleingruppen namens Kleeblättern ihr Leben verbringen und von Betreuerinnen umsorgt werden.

Ihr Lebensinhalt ist es, gesund zu bleiben. Sport, Spiel und gesunde Ernährung ist für die Dupliks das wichtigste im Leben. Aus diesem Grund müssen die Dupliks mindestens drei Stunden täglich Gesundheitstraining durchlaufen, außerdem müssen sie einmal pro Woche zum Gesundheits-Check-up in die Klinik. Schließlich sollen die Menschen, die für die Dupliks bezahlt haben, gesunde Ersatzteile bekommen, falls sie welche benötigen.

Die schlimmste Angst der Dupliks ist es, die Krankheit Fraß zu bekommen. Dabei frisst der Körper sich angeblich selbst von innen auf, und einzelne Körperteile müssen entfernt werden. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko dafür, dass man den Fraß bekommt. Fraß ist allerdings nichts mehr als der Vorwand der Hortleitung dafür, um die Körperteile der Dupliks zu entfernen, ohne den Dupliks den wahren Hintergrund hierfür erklären zu müssen. Schließlich ahnen diese nicht, was außerhalb des Hortes vor sich geht.

Gemeinsam mit Jonas 7 entdeckt man als Leserin oder Leser das Leben im Hort. Dabei werden allerlei spannende Fragen aufgeworfen. Denn Jonas 7 ist kein ganz gewöhnlicher Duplik, sondern einer, der sich viele Fragen über den eigentlichen Sinn des Duplik-Lebens stellt: Warum wohnen die Dupliks im Hort? Wo kommen sie her? Was verbergen die betreuenden Frauen vor den Dupliks? Wie ist das Leben hinter den Mauern? Gibt es noch einen anderen Sinn im Leben außer der Gesundheit?

Schließlich ereilt Jonas 7 die Schreckensnachricht: In seinen Augen sitzt der Fraß. Sie müssen wegoperiert werden. Kurz darauf ist Jonas bereits blind, womit er sich anfangs noch sehr schwertut, vor allem weil seine Mitbewohner teilweise plötzlich Angst haben, sich bei ihm anzustecken. Dabei weiß doch jeder, dass Fraß nicht infektiös ist. Nach der OP beginnt die eigentliche Geschichte erst. Denn nun setzt ein zweiter Erzählstrang ein, der in der Welt außerhalb des Hortes spielt und eine ganze Reihe von Ereignissen in Gang bringt, die auch das Leben im Hort und insbesondere von Jonas 7 aus der Bahn bringen.

In der Menschenwelt finden wir uns im Krankenhaus wieder: Nach einem Unfall hat Jonas Helcken, der passende Mensch zum Duplik Jonas 7, sein Augenlicht verloren, doch mithilfe der Augen seines Dupliks kann er wiedersehen. Bei einem Krankenbesuch versucht seine Schwester Ilka, eine erbitterte Vegetarierin und konservative Lebensschützerin, ihn von ihrer Kritik an der Duplikhaltung zu überzeugen. Sie selbst setzt sich für die Befreiung der Dupliks und die Abschaffung der Duplikhaltung ein.

Jonas weist Ilkas Argumente erst zurück, indem er erwidert, dass die Duplikhaltung in den fortschrittlichen Staaten Standards einhalte. Doch als seine Schwester wieder weg ist, macht sich Jonas plötzlich Gedanken über seinen Duplik, dessen Bild ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will: Sein Klon Jonas 7 liegt nun wohl ebenfalls in einem Krankenhaus, hat aber keine Augen mehr …

Als Ilka einige Wochen nach Jonas‘ Entlassung aus dem Krankenhaus einen Brief erhält, der von einer Betreuerin der Dupliks stammt, weiht sie Jonas ein. Die konspirativ agierende Betreuerin möchte einen Plan verwirklichen, um etwas zum Wohle der Dupliks zu erreichen. Jonas soll in diesem Vorhaben eine Rolle als Kontaktmann übernehmen. Nach anfänglichen Zweifeln entscheidet er sich schließlich dafür, mitzumachen. Sie versuchen, die Öffentlichkeit über die Duplikhaltung zu informieren und die Befreiung der Dupliks zu erwirken. Beginnen möchten sie aber damit, dass sie einen Duplik entführen: Jonas 7. Er wird bei einer Bluttransfusion mit dem Gen-Ausweis von Jonas Helcken aus dem Hort gebracht. Von dort kommt er in ein Versteck, in dem er sich mit Ilka aufhält.

Zunächst ist das Medienecho auf die Aktion gering, doch nach einem Fernsehbeitrag und einem Bekennervideo wird die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam. Es entstehen sogar Proteste zugunsten der Dupliks und gegen die Duplikhaltung. Die Hortleiterin Dr. Hellmann gibt öffentlich bekannt, dass sie, falls Jonas 7 wieder in ihre Hände gelangen sollte, diesen nur noch dem freien Spendermarkt zur Verfügung stellen könne. Denn seine Rückkehr in den Hort würde dort für unnötige Unruhe unter den Dupliks sorgen.

Jonas überlegt sich daher einen Plan, wie er seinen Duplik außer Landes an einen Ort bringen kann, an dem er vor Dr. Hellmann und ihren Schergen sicher ist. Auch vor Ilka möchte er den Duplik retten. Denn diese möchte sich seiner in den Augen von Jonas Helcken nur bedienen, um möglichst große Medienaufmerksamkeit für ihre Sache und politischen Druck zu erzeugen. Er entführt Jonas deshalb erneut, diesmal aus den Händen seiner eigenen Schwester. Doch möchte Jonas 7 überhaupt frei sein?

Spannend und bedrückend ist, welche Möglichkeiten der Gentechnik und Reproduktionsmedizin in Rabischs Gesellschaftsvision in die Tat umgesetzt wurden: Jeder Mensch kann, wenn er möchte, durch eine Genuntersuchung die bei ihm veranlagten Krankheiten erfahren. Die Gene werden von einer Zentralerfassung registriert. Die Schwangerschaften finden nicht mehr »wild« statt, sondern werden geplant. Die Menschen müssen sich in einem bestimmten Alter sterilisieren lassen. Menschen mit Krankheiten wie Allergien oder Ähnlichem dürfen sich nicht fortpflanzen, sondern müssen, um Kinder zu erzeugen, auf anonyme Spenden von Samen oder Eizellen zurückgreifen. Um Kinder zeugen zu dürfen, müssen die eigenen Gene eine gewisse Punktzahl erreichen. Leihmutterschaft ist eine nicht unübliche Einkommensquelle für Frauen. Es gibt Eispenden, Embryotransfer, Eingriffe in die Keimbahnen des Menschen und transgene Tiere. Identifizieren muss man sich mit einer Gen-Karte. Leute, die diese technischen »Errungenschaften« ablehnen, gelten als konservative Lebensschützer.

Eine derart ausgearbeitete Dystopie bietet viel Stoff für Diskussionen. Birgit Rabisch nimmt ihre jungen Leserinnen und Leser mit auf eine Reise, die von ethischen und philosophischen Fragestellungen gesäumt ist. Was ist ethisch korrekt, was sollte verboten werden? Unterscheiden sich Dupliks und ihre Menschen voneinander, wo sie doch eigentlich genetisch identisch sind? Darf man alles machen, was gentechnologisch, reproduktionsmedizinisch und technisch möglich ist? Werden wir uns irgendwann mit den neuen Möglichkeiten abfinden? Darf der Mensch Tiere essen? Allen Fragen ist gemein, dass es keine eindeutige Antwort gibt. Im Buch gab es zunächst eine Phase, in der die neuen »Errungenschaften« wie Leihmutterschaft, vorgeburtliche Selektion etc. abgelehnt wurden, anschließend wurden sie mit liberalem Überschwang in die Tat umgesetzt und schließlich wurde für alle Bereiche eine Ethikkommission eingeführt. Ethik gilt als wichtiges Unterrichtsfach und das Ethikressort ist eines der wichtigsten Ressorts der Regierung. Damit macht sich Rabisch mit ihrem Buch auch für die Stellung der Disziplin Ethik stark.

Nicht umsonst wird das Werk vielfach als Schullektüre verwendet – sowohl im Deutschunterricht als auch in Ethik/Philosophie und Biologie. »Duplik Jonas 7« wurde 1994 mit dem Literaturpreis Umwelt des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Er wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter Französisch, Spanisch, Italienisch und Griechisch. Außerdem wurde die Buchverlage mehrfach für die Theaterbühne adaptiert. Der Roman erschien 1992 zunächst im Georg Bitter Verlag, darauf 1996 im Deutschen Taschenbuchverlag und zuletzt als E-Book in aktualisierter Form im Verlag duotincta.

›Duplik Jonas 7‹ wird gerade an der Hochschule Offenburg vom Regisseur Harald Götz verfilmt. Philipp Götz spielt in dem Film in einer Doppelrolle Jonas 7 und Jonas Helcken. Wegen der Corona-Pandemie finden die Dreharbeiten aktuell nur eingeschränkt statt.

| FLORIAN BIRNMEYER

Titelangaben
Birgit Rabisch: Duplik Jonas 7
München: dtv 1996
191 Seiten, 7,95 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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