›Hauptursache für Wind sind räumliche Unterschiede der Luftdruckverteilung. Dabei bewegen sich Luftteilchen aus dem Gebiet mit einem höheren Luftdruck so lange in das Gebiet mit dem niedrigeren Luftdruck, bis der Luftdruck ausgeglichen ist. Je größer der Unterschied ist, um so heftiger strömen die Luftmassen‹ [Wikipedia].
Sprachspielerei, spottete Tilman, lachte lauthals, lehnte sich zurück und trank einen Schluck Tee, mit Sprachspielerei werden wir abgespeist, wir sind’s zufrieden, wir meinen Bescheid zu wissen, wir drehen bei und bilden uns ein, wir wären klüger geworden, weshalb nur lassen wir uns darauf ein, wir werden übermütig und neigen dazu, einen derartigen Satz auswendig zu lernen, stimmt’s?
Und ist dennoch falsch. Denn ›räumliche Unterschiede der Luftdruckverteilung‹ sind keineswegs, wie behauptet, ›Ursache‹ für Wind, sondern sie sind der Wind, die Kausalität ist gegenstandslos, hier legt sich Wortspielerei eine gewichtige Diktion zu und präsentiert sich knitterfrei im Gewand der Wissenschaft, anthrazitfarben.
Mit dem folgenden Satz, dem zweiten, fügte er hinzu, verhalte es sich keinen Deut anders, nur in der Wortwahl ist er umständlicher und konstatiert wie zuvor, daß ein Wind weht, gut, sagte Tilman, nun wissen wir es, genug, wir werden für dumm verkauft, nicht wahr, es bleibt dabei, diese Leute halten uns für Idioten, sagte er, und deshalb erübrigt es sich, auf den noch folgenden Satz überhaupt einzugehen.
Susanne lächelte, sie schenkte Tee nach, es war November, in Zeiten wie diesen war Vorsicht geboten, sie hatte sich eine leichte Erkältung zugezogen und einen wärmenden Schal umgelegt, selbstgestrickt, irische Schafwolle, matt türkis eingefärbt, sie trank eine Tasse Kamillentee, dazu einen Teelöffel Fenchelhonig, die beiden gaben ein idyllisches Bild ab an diesem trüben Nachmittag.
Eine abgefeimte Methode, sagte Tilman, die sich als wissenschaftlich geriert.
Die Frage war gewesen, weshalb die Winde wehen, und sie wüßte schon gern eine Antwort, sagte Susanne.
Die Sprachbastler drehen und winden sich wie Ingenieure, sagte Tilman, mit Feuereifer schrauben sie an ihren verwirrenden Wortungetümen, die nichts erklären – doch an der Sprache herumzudoktern, das ist dieser Tage ein mit großer Leidenschaft betriebenes Geschäft, mit dem sich die arrivierte Damenwelt bei Laune hält und das geradewegs ins Abseits führt, aufgeregt, geschwätzig.
Nein, sagte er, eine Antwort gelingt nur, indem man den Winden ein subjektives Handeln zuerkennt – die Griechen zum Beispiel unterschieden vier Windgötter: Zephyros, den Westwind, der den Frühling brachte, Boreas trieb den Wind von Norden, Notos von Süden, Apeliotes von Osten.
Jene Windstöße jedoch, die sich zum Schaden des Menschen auf das Meer herabstürzen, abwechselnd aus mehreren Richtungen stürmen und stolze Schiffe versenken, stammen, so wird erzählt, von Typhoeus ab, dem jüngsten Sohn der Gaia, einem grauenhaften Geschöpf, hundertköpfig, so wird erzählt, am ganzen Körper beflügelt, in seinen Augen lodern Feuer, und Zeus, den er im Kampf besiegte, dem er Sehnen an Händen und Füßen durchtrennte und den er gefangensetzte, wurde erst wieder von Hermes befreit.
Susanne lächelte. Sie könne sich gut vorstellen, sagte sie, welch gewalttätige Orkane ein Ungeheuer wie Typhoeus über die Meere schickte und wie er die Wasser in Aufruhr versetzte. Die Welt der griechischen Götter ist unkalkulierbar, hier schlägt ein tödlicher Blitz ein, dort tosen die aufgewühlten Meere, rätselhafte Orakelsprüche werfen eben noch ausgewogene Lebensläufe durcheinander – reichlich viel Drama.
Sie trank einen Schluck.
Verschwörungstheorien?, fragte sie.
Tilman lächelte. So möchte man heute vielleicht sagen, Susanne, doch die Griechen liebten ihre streitbaren Götter, denn deren Zwist setzte ihnen die Welt zusammen, und sie verstanden sie.
Die modernen Naturwissenschaften erklären sie uns nicht?
Vielleicht daß sie sie beschreiben und sie oft hinreichend detailliert darstellen, hübsch illustriert mit Fotografien von Hubble, schön und gut – aber erklären, so daß wir sie verstehen würden und uns geborgen fühlen? Nein, das leisten sie nicht.
Weshalb jeden Morgen die Sonne aufgeht, sagte Tilman, das wußten die Ägypter, das wußten die Griechen, das wußten viele andere Kulturen – wir wissen es nicht. Die Sonne ginge auf, weil die Nacht zum Ende findet? Das wäre keine kausale Verknüpfung, sondern eine Tautologie oder, wenn man denn anders will, eine rein zeitliche Folge – die Nacht geht zuende, die Sonne geht auf, es handelt sich um den Tagesanbruch.
Sie ginge auf, weil die Erde sich dreht? Das wäre keinen Deut anders, und wir beschrieben allenfalls einen Zusammenhang, doch lieferten keine erklärende Antwort. Es lohnt, auf unsere Sprache achtzugeben.
Tilman griff nach der Tasse, er hatte sich an das Service mit dem lindgrünen Drachen gewöhnt, er wäre auch rostrot erhältlich. War das Service nicht sogar ein Geschenk gewesen, das er aus Beijing selbst mitgebracht hatte? Er wird vergeßlich.
Manchmal bist du spitzfindig, Tilman.