Gesellschaft | Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch / Nešković (Hg.): Der CIA-Folterreport
Wenn Pasolini heute das triftige infernalische Ambiente für eine Dante-de-Sadesche Dystopie suchte, er käme vermutlich nicht auf Saló wie vor fünfzig Jahren, sondern auf Abu Ghraib oder eine der über die halbe Welt verstreuten black sites der CIA oder das Militärgefängnis in der kubanischen US-Enklave Guantánamo. Orte der Folter, die nicht so heißen durfte, und anderer krimineller Energie, die mit allen Mitteln verleugnet, schöngefärbt, geheim gehalten wurde. Orte, aus denen die Stimmen der Geschundenen nur äußerst selten dringen. Mohamedou Ould Slahi sitzt seit 2002 in »GTMO« fest, 2005 hat er aufgeschrieben, was ihm passierte. Jetzt endlich erscheint, sorgfältig ediert von Larry Siems, sein ›Guantánamo-Tagebuch‹. Von PIEKE BIERMANN
Fast auf den Tag genau vor sechs Jahren hat US-Präsident Obama per Dekret versprochen, Guantánamo »innerhalb eines Jahres« zu schließen, und »harte Verhörmethoden« verboten. Mehr als 140 Häftlinge sitzen trotzdem noch immer dort. Opfer von Foltermethoden, die mit dem Euphemismus »erweiterte Verhörtechniken« verschleiert werden sollten und weltweit zum Synonym dafür wurden, zu welchem grausamen Unrecht auch ein demokratischer Rechtsstaat fähig ist: Waterboarding, sexuelle Demütigung, tagelanger Schlafentzug, Isolation, Lärm- und Lichtqual.
Inzwischen ist vielfach und sogar amtlich belegt, dass die »Geständnisse« all der angeblichen Top-Terroristen in jedem Sinn wertlos waren. Aber auch wer intern längst als irrtümlich verdächtigt abgehakt war, blieb in GTMO. Selbst wenn ein (ziviler) Bundesrichter die sofortige Freilassung verfügt hatte, so wie 2010 im Fall von Mohamedou Ould Slahi.
Über- durch Unterstellung
Der Mauretanier, der in Deutschland und Kanada studiert und gearbeitet hatte, war mit ein paar Leuten bekannt oder verwandt, die FBI, CIA & Co schon vor 9/11 auf dem Schirm hatten. Er galt, als er nach GTMO kam, als einer der hochrangigen al-Qaida-Verschwörer, von denen die Bush-Cheney-Rumsfelds immer gern raunten, wenn sie ihr illegales Haftsystem moralisch zu rechtfertigen versuchten. Aber niemand hat je irgendeine Anklage gegen Slahi erhoben. Er war, nach den Worten eines ehemaligen Militäranklägers, eher eine Art Forrest Gump – ein freundlicher, wohlerzogener junger Mann, ahnungs- und harmlos, nur eben manchmal auch gerade irgendwo da, wo sich angeblich verschworen wurde. Er war zum Beispiel in Afghanistan, als al-Qaida noch von den USA gepäppelt wurde – gegen die sowjetischen Invasoren.
Slahi ist noch immer nicht wieder frei, seit er im November 2001 freiwillig zur mauretanischen Polizei gefahren war. »Zur Klärung eines Sachverhalts«, hieß so etwas einst anderswo. Er konnte nicht wissen, dass er dort auf FBI-Beamte treffen würde, die ihn von Nouakchott erst in ein jordanisches Foltergefängnis, dann nach Bagram/Afghanistan und im August 2002 nach GTMO »überstellen« würden.
Im eigenen Namen
2005 schreibt er auf, was ihm passiert ist auf seiner, wie er spöttelt, »endlosen Welttournee«. Herausgekommen sind 466 Seiten, in Handschrift, auf Englisch, seiner vierten Sprache nach Arabisch, Französisch und Deutsch. Er lernt es in GTMO, von seinen Wärtern. Es dauert fast zehn Jahre, bis seine Anwältinnen es zur Veröffentlichung frei kriegen – in Teilen geschwärzt, selbstverständlich. Der Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Larry Siems hatte schon 2013 einige Auszüge auf slate.com veröffentlicht und Slahis Geschichte erzählt. Jetzt hat er Slahis Text komplett – bis auf die 2.600 schwarzen Zensurbalken –, ediert, mitsamt eine ausführlichen, fundierten Einleitung und 189 Fußnoten, in denen er Hintergründe ergänzt, die man beim Lesen wissen sollte, und vor allem Teile der geschwärzten Stellen aus anderen, mittlerweile publizierten amtlichen Dokumenten rekonstruiert. Im eigenen Namen, auf eigenes Risiko, »unzensiert«.
Es ist ein 500-Seiten-Brocken, der in einer konzertierten Aktion am selben Tag in den USA, der Türkei, England und fast ganz Resteuropa gleichzeitig herauskommt. Deutschsprachige Leser haben obendrein das Glück der doppelten Gleichzeitigkeit, weil kurz vorher auch das bisher wichtigste Dokument von der anderen Seite erschienen ist: der CIA-Folterreport des US-Senatsausschusses, herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Nešković.
Beide Bücher breiten herzzerreißendes Grauen en détail aus: das eine im kalten bürokratischen O-Ton der Täter, bei dem einem immer wieder »Eichmann pur« einfällt; das andere als einzelne menschliche Stimme. Aber Slahis Tagebuch bietet weit mehr als nur einen Blick »von innen« – das tun auch Murat Kurnaz‘ Memoiren (›Fünf Jahre meines Lebens‹, 2007) oder Michael Winterbottoms Film (›The Road to Guantánamo‹, 2006) über drei britische Gefangene. Mohamedou Ould Slahi entpuppt sich schon in der ersten Szene als Erzähler. Er schreibt Literatur, so glasklar wie dezent und zum Heulen schön in ihrem Mangel an Larmoyanz oder Aggression, ihrem tiefen Gerechtigkeitssinn, ihrem umwerfenden warmherzigen Witz.
Um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen, zu einem anderen Schreiber, zehn Jahre vor Pasolinis ›Die 120 Tage von Sodom‹: Slahis Tagebuch könnte mit Fug und Recht den doppelbödigen Titel von John Lennons Erstling tragen: ›In His Own Write‹.
Eine andere Version der Rezension wurde zeitgleich bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.
Titelangaben
Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch
herausgegeben von Larry Siems, aus dem Amerikanischen von Susanne Held
Stuttgart: Tropen 2015
530 Seiten. 19,95 Euro
Der CIA-Folterreport
Der offizielle Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA
herausgegeben von Wolfgang Nešković
Frankfurt/Main: Westend 2015
640 Seiten. 18 Euro