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Geschichte neu schreiben

Gesellschaft | Noam Chomsky: Die Herren der Welt

Der in Philadelphia, Pennsylvania, geborene Noam Chomsky lebte sein erstes Leben als erfolgreicher und angesehener Sprachwissenschaftler der USA, er revidierte die traditionelle Grammatik von Grund auf. Durch den Vietnamkrieg wurde er zum Dissidenten. Er erwarb sich weltweites Ansehen, wurde in den USA mehrmals inhaftiert, zum ersten Mal 1967 anlässlich einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg, und ist heute eine Leitfigur des Widerstands gegen die gedankenlose Fortsetzung herkömmlicher Politik. Von WOLF SENFF

Noam Chomsky: Die Herren der WeltNoam Chomsky ist ein äußerst produktiver Autor. Man wundert sich, dass er hierzulande in der Welt des medialen Mainstream, die uns von ›Tea Party‹, ›Mick Jagger‹ über ›Barack Obama‹ bis ›Hollywood‹ so lückenlos mit Bildern aus den USA versorgt, gar nicht zur Kenntnis genommen wird.

Widersprüche, Widersprüche

Die im vorliegenden Band enthaltenen sieben Texte erfreuen einer wie der andere durch gedankliche Klarheit und scharfsinnige Formulierungen, jeder einzelne ist politisch brisant und aktuell. Gleich der erste greift zentrale Aussagen seiner ersten bedeutenden politischen Publikation ›American Power and the New Mandarins‹ (1969) auf und beschreibt Situation und Aufgabe der Intellektuellen in einer vom »militärisch-industriellen Komplex« (Dwight D. Eisenhower) beherrschten Nation.

Widersprüchlichkeit der USA am Beispiel des Sechs-Tage-Krieges von 1967 zeigt der folgende Text. Chomsky spricht zwar von »einem breiten Konsens in der amerikanischen Gesellschaft«, der Israel eine besondere Stellung zubillige; er weist aber nach, dass der Grund für den israelischen Angriff auf Ägypten, Jordanien und Syrien, Israel sei in seiner Existenz bedroht, nicht haltbar sei. Nirgendwo habe seinerzeit jemand einen Angriff gegen Israel geplant. Diese Tatsache sticht noch heute schmerzhaft in die selbstgefällige Haltung israelischer Regierungspolitik, die nüchternen Argumenten wenig zugänglich ist.

Tatsachen und Hirngespinste

Die in dieser Sammlung enthaltenen Aufsätze entfalten eine faszinierende Aktualität. Reinhold Niebuhr (1892-1971), einst einer der Granden hinter den Kulissen, genoss hohes Ansehen über Parteigrenzen hinweg und wird noch vom gegenwärtigen Präsidenten der USA außerordentlich geschätzt. Chomsky dekonstruiert Niebuhrs Aura und zeigt, dass dieser sich lediglich »strikt innerhalb der konventionellen Orthodoxie bewegt und sich an die Spielregeln« gehalten habe.

Niebuhr, so weist Chomsky nach, interpretiere Geschichte nicht aufgrund von Tatsachen oder Dokumenten, sondern aufgrund von verkündeten Idealen. Folglich sei sein Bild der amerikanischen Vergangenheit und Gegenwart »reinste Gefühlsduselei, von Tatsachen ungetrübt«. Aus Chomskys kritischen Anmerkungen zu Niebuhr gewinnt der Leser ein erfreulich realistisches Bild der historischen Rolle der USA.

Historische Wirklichkeit und Propaganda

Chomskys Texte sind immer wieder ein Appell, Geschichte umzuschreiben. Längst vor September 2001, als die ›Koalition der Willigen‹ den ›Krieg gegen den Terror‹ ausrief, seien die USA aufgrund ihres Vorgehens gegen Nicaragua ein terroristischer Staat gewesen und vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag verurteilt worden – was von den USA ignoriert wurde, und beim westlichen Mainstream wird so etwas flugs unter den Teppich gekehrt. Auch der Mord an Erzbischof Romero und sechs führenden lateinamerikanischen Intellektuellen im Jahr1980 wurde von einem durch die USA bewaffneten und ausgebildeten Elitebataillon begangen, doch diese Dinge werden im Nu aus dem politischen Gedächtnis des Westens eliminiert – der Mainstream hat Medien und Kultur voll im Griff.

Eine Definition des Terrorismus werde kompliziert, weil man sich, was die Politik der USA angehe, zunächst »von grundlegenden moralischen Wahrheiten befreien« müsse. Insofern seien auch Kosovo-Krieg, die Invasionen in Afghanistan und in den Irak im Hinblick auf das Völkerrecht neu zu beurteilen.

Große Brocken liegen im Weg

Die zwei letzten Aufsätze sind Jetzt-Zeit. Noam Chomsky besitzt die seltene Gabe, komplexe Sachverhalte erstens: in verständlicher Sprache, und zweitens: gedanklich überzeugend darzulegen. Er bezieht sich anfangs auf den renommierten US-amerikanischen Biologen Ernst Mayr, der die menschliche Intelligenz für eine tödliche Mutation hält, und verweist auf Möglichkeiten, den drohenden Kollaps des Planeten abzuwenden. Er zeigt gleichzeitig auf kontraproduktive Mechanismen, d.h. systemische Eigengesetzlichkeiten der ›Marktwirtschaft‹. Man versteht die Gefährdung, man versteht, welch große Brocken vor uns liegen und beiseite geräumt werden müssen.

Der letzte Text verleiht der gesamten Sammlung den Titel. Es geht um die ›Herren der Welt‹, und Chomsky beantwortet seine einleitende Fragestellung, ob »die menschliche Kultur den real existierenden Kapitalismus überleben« werde, mit Skepsis. Er zitiert »den angesehensten Börsenjournalisten der westlichen Welt«, Martin Wolf von der ›New York Times‹, mit den Worten, dass »der Finanzsektor völlig außer Kontrolle geraten ist und die moderne Marktwirtschaft von innen her auffrisst«. Noam Chomsky nimmt gleichzeitig wahr, dass die ›Herren der Welt‹ gänzlich beratungsresistent und kompromisslos an ihrem Lebensstil festhalten und jegliche Veränderung unerbittlich bekämpfen. Das sind alles in allem keine übermäßig vielversprechenden Aussichten.

Nicht Mainstream und nicht Plastiksprech

Von Noam Chomsky werden gelegentlich leicht holzschnittartige Texte mit einem Anflug von Agitprop publiziert, englischsprachig, auf das intellektuelle Niveau des US-amerikanischen Publikums gemünzt.

Die im vorliegenden Band enthaltenen Aufsätze sind sorgfältig ausgewählt, sie zeugen von der klugen und differenzierten Perspektive und von der treffenden Zeitdiagnose eines erfahrenen Wissenschaftlers, sie wenden sich gegen die einschläfernde Ruhe bequemer Wahrheiten, fordern uns zum Denken auf und sind alles andere als Mainstream oder Plastiksprech.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Noam Chomsky: Die Herren der Welt. Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten
(The Masters of Mankind: Essays and Lectures, 1969-2013, übersetzt von Gregor Kneussel)
Wien: Promedia 2014
208 Seiten. 17,90 Euro

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