Kinderbuch | Antje Damm: Der Besuch
Manchmal verändern sich die Dinge im Leben schnell, ohne Vorwarnung und gründlich. Das kann wehtun, irritieren oder das Leben bereichern. ANDREA WANNER war gespannt, was aus Elsies Leben im Bilderbuch ›Der Besuch‹ geschildert wird.
Es ist eines dieser Cover, das man anschaut und anschaut – und dann anfängt, eine Geschichte zusammenzuspinnen. Da steht eine ältere, ein bisschen mollige Frau mit zu Schnecken hochgesteckten Haaren, kariertem Kleid mit Schürze und Schlappen an den Füßen vor einer geschlossenen Tür und lauscht, die rechte Hand ans Ohr gelegt. Ihre kugelrunden Augen sind groß und wirken ängstlich. Das Zimmer, in dem sie sich befindet, ist dämmrig und in graue Schatten getaucht. Und draußen herrscht Helligkeit. Ein goldenes, warmes Licht dringt durch die kleine Glasscheibe der Tür und durch die Ritzen, wirft einen matten Schimmer auf den Schrank. Wer oder was ist da draußen? Wartet sie auf jemanden? Warum schaut sie so erschrocken? – Wie schön, dass das erst der Anfang ist!
Zunächst lernen wir das Innere des Hauses kennen. Es ist ein Raum in der Draufsicht, der einer Theaterbühne gleicht. Links die Tür, die wohl nach draußen führt, an der Wand rechts daneben der Schrank. An der Rückwand zwei Fenster, davor ein altmodischer Herd mit einem Topf darauf, rechts führt eine steile Stiege nach oben. Unter der sich ergebenden Schräge ein Bett, im Dunkel verschwindend. Im Vordergrund ein Tisch mit zwei Stühlen. Und an der rechten Seitenwand ein Regal. Zwei Topfpflanzen, an der Wand des Treppenaufgangs vier Bilder, lauter Porträts. Und an der Decke eine Lampe. Das Zimmer liegt beinahe lichtlos im Dunkel, aber draußen vor den Fenstern ist es hell. Es ist kein gemütlicher Raum, sondern einer der bedrückend wirkt in seiner Farblosigkeit und Enge. Man spürt es. Und erfährt dann warum.
Hier wohnt Elsie. Und Elsie ist ein ängstlicher Mensch. Dass sie Angst hat vor Spinnen, mag man ja noch verstehen. Aber Elsie hat auch Angst vor Bäumen und vor Menschen und das ist der Grund, warum sie Tag und Nacht zu Hause bleibt, in ihrem ordentlichen, steril wirkenden Haus, das sie täglich putzt. Sie sitzt am Tisch mit einem Becher Tee oder Kaffee – und alles wirkt trostlos und unglaublich traurig.
Und dann passiert »etwas Unglaubliches«: Durch das zum Lüften geöffnete Fenster fliegt von draußen aus dem strahlenden Sonnenlicht etwas Blaues in das Zimmer. Etwas Störendes, Irritierendes, das Elsie sofort im Ofen verbrennt und das sie in seiner Unglaublichkeit die ganze Nacht kein Auge zutun lässt. Am nächsten Morgen dann ein Klopfen an der Tür. Es ist jene Szene, die wir schon vom Umschlag des Buches kennen. Und im Gegensatz zu Elsie haben wir auch das merkwürdige blaue Ding identifiziert. Es ist – nein, es war, denn Elsie hat ihn ja im Ofen verbrannt – ein Papierflieger. So ist unsere Überraschung vielleicht nicht ganz so groß wie die der jetzt ärgerlichen Frau, die die Türe tatsächlich öffnet. »Wo ist mein Flieger?« will ein kleiner Junge wissen, der das »Bitte nicht stören«-Schild an der Haustür entweder nicht lesen konnte oder schlicht ignorierte. Da steht er barfuß vor der Tür, rote Hose, gelbes Shirt, rote Baseballkappe mit dem Schild nach hinten auf dem Kopf und erklärt ganz ungeniert, dass er aufs Klo muss. Und Elsie? Erlebt staunend, was alles geschehen kann.
Antje Damm zaubert eine Geschichte aufs Papier, die hinreißender nicht sein könnte. Sie lässt die beiden Hauptpersonen ganz wörtlich genommen als ausgeschnittene Figuren in einem Puppenstubenraum agieren, beleuchtet und fotografiert die Szenen. Der dreidimensionale Raum, in dem sich die beiden zweidimensionalen Gestalten ›bewegen‹ verändert sich von Seite zu Seite, dadurch, dass er allmählich farbiger wird. Überall wo Emil – so heißt der kleine Junge – sich in dem Zimmer bewegt, verschwindet das Grau. Die Treppenstufen werden leuchtend rot, das Porträt eines jungen Mädchens an der Wand zeigt plötzlich ein rosafarbenes Kleid und rosa leuchtende Bäckchen. Das Regal entpuppt sich als Bücherregal und die Bücher erstrahlen in allen Farben. Es ist eine unvorstellbare Verwandlung, die mit dem Zimmer und zeitgleich mit Elsie passiert. Es braucht dazu fast keine Worte. Die wenigen sind die richtigen. Es sind die Fragen, die Emil stellt, seine kindlich-harmlosen Forderungen und Ansprüche ganz ohne Hintergedanken, die Elsie zurück ins Leben holen. Emil knackt ihren Panzer und Elsie kann die Begegnung nicht nur zulassen, sondern sogar genießen. Das spüren schon die Kleinen, das verstehen die Großen und das bewegt alle. Sehr zufrieden können wir am Ende eine glücklich lächelnde Elsie mit roten Apfelbäckchen zurücklassen. Wir wissen, dass das nicht der letzte Besuch war, den sie bekommt.
Titelangaben
Antje Damm: Der Besuch
Frankfurt: Moritz 2015
36 Seiten, 12,95 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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