Comic | Richard McGuire: Hier
Das Hier und Jetzt, betrachtet aus dem Hier – vorher, jetzt und in Zukunft: Richard McGuire exerziert mit ›Hier‹ jenen narrativen Kniff, den er vor 25 Jahren in einem Kurz-Comic anwendete, auf der vollen Länge eines 300 Seiten starken Comics. CHRISTIAN NEUBERT begleitet ihn bei dieser ortsgebundenen Zeitreise.
Ist es die Geschichte als stete, unaufhörliche Abfolge der Zeit, die uns Geschichten erzählen lässt? Erzählen wir Geschichten, um zeitlich-räumliche Geschehnisse innerhalb einer unendlichen Größe fixieren zu können? Werden sie dabei womöglich zu übersteigerten Versionen vergangener Zeitabschnitte? Und jubelt man ihnen bei diesem Akt, der einen in gewisser Weise Herr über die Ewigkeit werden lässt, nicht unweigerlich etwas Statisches unter? Bedürfen denkwürdige Ereignisse womöglich gar der Starre, um denkbar zu sein?
Fragen wie diese treiben den Leser um, der sich Richard McGuires ›Hier‹ vornimmt. Und Fragen wie diese hat sich wohl auch Richard McGuire selbst gestellt, als er ›Hier‹ zu dem ausarbeitete, was es heute ist: Ein 300-seitiger Comic, der sich herkömmlicher formaler Erzählstrukturen entzieht, indem er sich als ein Kammerspiel inszeniert, das der Zeit enthoben ist. Dabei begann alles ganz klein: Dem Band liegt ein sechsseitiger Comic zugrunde, den McGuire vor einem Vierteljahrhundert im Comicmagazin ›Raw‹ veröffentlichte.
Fragen über Fragen
Bei weit auseinanderklaffendem Umfang ist die eigentümliche Erzählweise beider Comics die gleiche: Die einzelnen Panels zeigen einen bestimmten Raumausschnitt im immer gleichen Winkel, an dem die Zeit vorbeirauscht – sprunghaft und in beide Richtungen, also in die Zukunft und die Vergangenheit. Indem immer wieder weitere Panels in den zugrunde liegenden Bildausschnitt – beim neuen Band füllt er konsequent eine Doppelseite aus – eingearbeitet werden, schafft McGuire neben der permanenten Sprunghaftigkeit eine temporäre Gleichzeitigkeit: Vergangenheit und Zukunft treffen in jeweils unterschiedlichen Gegenwarten aufeinander.
Dieser erzählerische Kniff ist womöglich das Gegenteil von jenem Geniestreich, den Chris Ware innerhalb seiner »Building Stories« anwendete: Ware enthob innerhalb seines überbordenden Comic-Konglomerats einzelne Augenblicke der linearen Erzählweise, indem er anhand unterschiedlicher gleichzeitig ablaufender Erzählstränge aufzeigte, dass der Blick auf Raum und Zeit stets vom Betrachter und von dessen jeweiligem Blickwinkel abhängt. McGuires Methode in ›Hier‹ ist dagegen die, von einem festen Blickwinkel aus in der Zeit vor- und zurückzugreifen. Vom Wohnzimmer eines viktorianischen Herrenhauses ausgehend gewährt er flüchtige Eindrücke von den Familienbanden mehrerer Generationen. Seinem eigenem Geburtsjahr kommt dabei eine große Rolle zu. Daneben wird man z.B. Episoden eines Maskenballs in den Siebzigern gewahr. Man wird Zeuge mehrerer Streitigkeiten, von Geburten, von Weihnachtsfeiern und von Abenden vor dem Fernseher. Dann wieder sieht man die Rodung eines Waldes im 18. Jahrhundert, wo später mal das Wohnzimmer, das Haus stehen soll. Und man erhält einen Eindruck von der grauen Urzeit, als dort, wo sich einst ein Haus befinden wird, die Erde noch unter Wasser liegt.
Entrückt, aber nicht enthoben
Vielleicht will McGuire einem durch seinen formalen Kniff aufzeigen, von welch geringer Bedeutung einzelne temporäre Abschnitte innerhalb jener unfassbaren Größe sind, die wir als Zeit wahrnehmen. Und inwieweit wir im Gegensatz dazu neigen, Vergangenes konservieren zu wollen – womit wir wieder bei den eingangs gestellten Fragen wären.
Einmal lässt ›Hier‹ den Leser an einem Witz teilhaben, der anno 1989 erzählt wird. Indem McGuire diese eine Episode unter vielen auf mehreren aufeinanderfolgenden Seiten inszeniert, bekommt man vielleicht eine Idee davon, wie unserer Erinnerung das Vermögen innewohnt, einzelne Episoden des Vergangenen im Gedächtnis zu überhöhen und als bedeutsam aufzuladen. Das ist schön zu beobachten – und nicht zuletzt auch schön anzusehen, denn McGuire versteht sein Handwerk als Illustrator. Eine spezifische narrative Gegebenheit des Comics hebelt McGuire jedoch nicht aus: Auch wenn sich ›Hier‹ der Zeit als eine konstante, gleichmäßige Größe enthebt, inszeniert der Comic sie dennoch als Raum.
Titelangaben
Richard McGuire: Hier
›Here‹ – Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Köln: DuMont 2014
300 Seiten, 24,99 Euro
Reinschauen
| Homepage des Künstlers
| Der zugrunde liegende sechsseitige Comic aus dem Raw-Magazin