Gesellschaft | Raul Zelik, Elmar Altvater, Vermessung der Utopie
Wer hätte geglaubt, dass den unzähligen kapitalismuskritischen Publikationen inhaltlich Neues hinzuzufügen wäre. Auf vielen Seiten in einem unauffällig daherkommenden kleinformatigen Bändchen sprechen Raul Zelik und Elmar Altvater erstaunlich viele originelle Aspekte an. Von WOLF SENFF
Sie nehmen einen Blickwinkel ein, aus dem manches höchst überzeugend auf den Punkt gebracht wird. In aller Deutlichkeit. So zum Beispiel, dass Ökonomie »kaum noch etwas mit dem politischen und gesellschaftlichen System, dem System der Arbeit und der Arbeitsteilung, dem Austausch mit der Natur zu tun hat«. Belastung der Natur? Geht die Ökonomie nichts an, das sind ›externe Effekte‹. Unfruchtbare Böden und belastetes Grundwasser im indischen Punjab, nachdem Saatgut aus den Monsanto-Laboren und Pestizide von Bayer eingesetzt wurden?
Gewinn erstens, zweitens, drittens
Schön und gut, eine ökologische, soziale und menschliche Tragödie, aber sie rangiert ebenfalls unter ›externe Effekte‹, und deshalb wird niemand auf die Idee kommen, die ökonomischen Strukturen zu ändern. Für die Nachsorge, für das Beheben von Schäden, diese Melodie ist vertraut, haftet keinesfalls die Wirtschaft.
Das sei korrekt, so Elmar Altvater, denn das kapitalistische ökonomische Denken ziele auf nichts anderes als auf den Gewinn. Bereichen wie Natur, Gesellschaft, Politik habe sich die Ökonomie entzogen, sie spielen im ökonomischen Denken keine Rolle.
Ressourcenkonflikte
Eine sehr konkrete Ursache für die nicht abwendbare strukturelle Krise sieht Elmar Altvater darin, dass das Automobil keine Zukunft mehr habe, vor allem aufgrund der ökologischen Zerstörung, zu der das Automobil maßgeblich beitrage. Das Automobil sei ein Sinnbild für das Zwanzigste Jahrhundert und dessen Ideologie der Beschleunigung.
Hinzu komme die Tatsache, dass die Ressourcenkonflikte zunähmen und ihren militärischen Charakter zeigen würden, und zwar mittels Eingreifens der NATO, die für sich in Anspruch nehme, die Energie- und Ressourcensicherheit global zu gewährleisten.
Markt und Planung
Im Rückblick auf die sozialistischen Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts wird differenziert auf Ausprägungen etwa in China, in Jugoslawien eingegangen; der ›Prager Frühling‹ von 1968, mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen, sei ein markanter Wendepunkt der besonders in der CSSR seinerzeit offenen Entwicklung gewesen. Zelik und Altvater beurteilen auch die Tendenzen in einigen Ländern Südamerikas und den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in Hugo Chavez‘ Venezuela, sie liefern eine weit gefächerte Bestandsaufnahme.
Im Ausblick auf die kommende Gesellschaft erwarten sie, anknüpfend an Formen des Sozialstaats, neue Strukturen einer »Verschränkung von Markt und Planung«, dezentral, genossenschaftliche Formen von Eigentum, demokratische Entscheidungsabläufe – das sind Ansätze, von denen wir wissen, dass sie sich in der Praxis in diversen Projekten bewährt haben und bewähren, die auch durch Stiftungen und ›Sponsoring‹ direkt gefördert werden, man wartet vielleicht lediglich auf den vielzitierten ›qualitativen Sprung‹, der einer ganzen Gesellschaft diesen Charakter des Neuen verleiht.
Das Bohren dicker Bretter
Die Diskussion dessen, was zukünftig zu erwarten sei, verbleibt in diesem Gespräch allzu sehr auf einer traditionellen, orthodoxen Ebene, Raul Zelik und Elmar Altvater verlangen nach einem »großen Paradigmenwechsel« und einem »radikal Anderen«, einer »messianischen Überzeugung«.
Es darf daran gezweifelt werden, dass diese Frontbildung einer komplexen Realität gerecht wird, die sich mit in der Geschichte der Industrialisierung bislang unbekannten ›Sachzwängen‹ konfrontiert sieht, als da wären der Schutz des Planeten, die Pflege des Lebens.
Auch ohne groß angelegte politische Debatten ist Politik längst mit diesen Themen konfrontiert, und auf dieser Grundlage stellt sich unweigerlich die ›Systemfrage‹, jedoch weitgehend im Kontext pragmatischer Politik. Auf diese Politik, eine Politik der kleinen Schritte gewissermaßen, darf man gespannt sein, sie ist immer wieder gefordert, sei es ›Fracking‹, sei es ›TTIP‹ etc., die Politik muss dicke Bretter bohren.
Titelangaben
Raul Zelik, Elmar Altvater, Vermessung der Utopie
Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft
Berlin: Bertz und Fischer, 2015
237 Seiten, 9,90 Euro
Reinschauen
| Leseprobe