»Speck-Tag-Kuh-leer« und »Opi-Mist-Tisch«

Kinderbuch | Anja Janotta: Linkslesestärke oder Die Sache mit den Borten und Wuchstaben

Mira hat eine Rechtschreibschwäche und für sie wird daraus eine beklemmende Allein-gegen-die-ganze-Klasse-Situation. Aber mit ihrem pessimistischen Ansatz »Für manche Probleme gibt es keine Lösung« liegt sie zum Glück falsch. Von ANDREA WANNER

linkslesenMira steht mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß. Wörter machen in Miras Kopf einfach, was sie wollen. Das ist nicht schlimm, solange Mira die Wörter nicht schreiben muss. Ganz im Gegenteil. Gemeinsam mit ihrem »längsten Freund« und Klassenkameraden spielt sie äußerst kreative und lustige Runden Buchstabendrehen. Da entstehen dann zum Thema Sport Speitwringen, Lürdenhauf, Bußfall oder Spundesjugendbiele oder mutieren bekannte Märchen zu Gränsel und Hetel, Der Frischer und feine Sau oder Brüderlein und Lesterschwein. Wenn es aber in der Schule ans Dicktieren oder Trännieren geht, wird daraus schnell eine Blahmatsche. Mira wird ausgelacht und gehänselt. Und ihr zweites Handicap verschlimmert das Problem: Sie kann sich keine Namen merken, nicht mal die ihrer eigenen Klassenkameraden. Nicht mal die ihres einzigen und besten Freundes, der für sie einfach »Mein-längster-Freund« ist. Mira weiß, dass es schwierig ist, Freunde zu haben, wenn man sich den Namen nicht merken kann. Aber sie weiß nicht, wie sie das Problem lösen könnte.

Und dann kommt eine Neue in die Klasse, die zufällig auch bei Mira gleich nebenan wohnt. Das wäre eine tolle Chance für eine richtige Freundin. Aber stattdessen läuft genau ab diesem Moment alles schief und die ganze Welt scheint sich gegen das immer unglücklicher werdende Mädchen zu verschwören.

Anja Janotta nimmt sich in ihrem Kinderbuch den Themen Legasthenie und Mobbing auf ungewöhnliche Weise an. Witzige Passagen wechseln sich mit Stellen ab, in denen sehr ernsthaft aus unterschiedlichen Perspektiven über beide Probleme gesprochen wird. Beim Lesen wird deutlich, an welchen Stellen die Schule versagt, welche Mechanismen Mira noch tiefer in ihre Probleme stoßen, sodass sich tatsächlich eine Art Teufelskreis entwickelt, aus dem das Mädchen ohne fremde Hilfe gar nicht mehr herausfinden kann. Aber auch Verharmlosung, Bagatellisierung, Ermahnungen wie »Gib dir halt mehr Mühe!« werden als unangemessen und kontraproduktiv entlarvt. Das alles geschieht ungeheuer geschickt, sodass junge Leserinnen die Probleme und ihre Bewältigung Schritt für Schritt mitverfolgen können. Raum für eigene Bewertungen bleibt ebenso wie die Möglichkeit der Identifikation mit der Heldin – selbst wenn man selbst kein Problem mit den Wörtern und Buchstaben hat. Miras Weg zur selbstbewussten Linkslesestärke ist klug und einfühlsam nachgezeichnet. Und selbst wenn es am Ende ein bisschen Glitzer regnet, ist die Szene nicht künstlich überzuckert. Mira findet ihren Platz, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben – wenigstens teilweise – ihre Rolle erkannt. Und auch erkannt, dass Wegsehen und den Mund Halten auch eine Form der Mitschuld ist, Auslachen Verletzungen zufügen kann, die tiefer gehen, als man ahnt.

Hier geht es nicht um Therapiemöglichkeiten der Legasthenie, es geht um Strategien, wie man mit persönlichen Schwächen umzugehen lernt. Mira kann dazugehören mit allen ihren Kompetenzen und Fehlern – von den anderen ist schließlich auch keiner perfekt. Eine banale Erkenntnis? Erst mal müssen alle den Blick genau dafür freibekommen. Dann endlich kann so etwas wie eine Klassengemeinschaft entstehen, in der alle ihren Platz finden, und die Pyramide aus zwanzig Kindern, die den Höhepunkt der Weihnachtszirkusaufführung bilden soll, klappt endlich. Dass dafür die beiden schlimmsten Quertreiber die Klasse verlassen müssen, gehört auch dazu.

Die Illustrationen von Stefanie Jeschke setzen das perfekt ins Bild, spiegeln in einfachen Zeichnungen Träume und Wünsche, heitere Ausgelassenheit, echte Verzweiflung, trotzige Wut und ausgelassene Freude. Das alles zusammen macht Mut und eignet sich perfekt zum Lesen und/oder Vorlesen. Wer dann noch Lust hat, selbst mit Wörtern und Buchstaben weiterzuspielen, kann das auf www.linkslesestaerke.de auf »krä-ah-tiefe« Weise tun!

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Anja Janotta: Linkslesestärke oder Die Sache mit den Borten und Wuchstaben
Mit Illustrationen von Stefanie Jeschke
München: cbt 2015
240 Seiten, 12,99 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe
| linkslesestaerke.de – Webseite

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Angeschwemmtes

Nächster Artikel

Thomas Bernhard und die Brotfachverkäuferin

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Mutproben

Kinderbuch | Ryan Gebhart: Bärenschwur Der 13jährige Tyson hat schon lange einen Plan: Mit seinem Großvater, den er liebevoll Gramps nennt, auf die Jagd gehen. Gramps macht das jedes Jahr, auf die Wapitijagd gehen. Jetzt ist Tyson endlich alt genug, ihn zu begleiten. Von ANDREA WANNER

Das Recht auf eine Gutenachtgeschichte

Kinderbuch | Helen/Thomas Docherty: Der Bücherschnapp Okay, ins Bett muss man abends irgendwann. Aber das Mindeste, was Kinder dann noch erwarten können, ist eine Gutenachtgeschichte. Im Kaninchental wird die Tradition des abendlichen Vorlesens in allen Familien gepflegt und ANDREA WANNER versteht den Ärger, als es zu Störungen kommt.

Bildungs(un)lust

Kinderbuch | Christian Gutendorf: Manfred muss mit Ferien stehen vor der Tür. Da haben so manche bildungsbeflissene Eltern sicherlich Pläne, welche Kulturgüter den lieben Kleinen nahezubringen sind. Museum, Burg oder Ausgrabungsstätte? Manfred Vaters hat sich jedenfalls für einen Tagesausflug mit seinem Sohn die höchste Kirche der Welt vorgenommen. Ein Vergnügen besonderer Art, meint ANDREA WANNER.

Eine tröstende Geschichte

Kinderbuch | Peter Carnavas: Der Elefant

Geschichten können durch schwierige Zeiten helfen, indem sie Mut machen und Trost spenden. So auch das neue Kinderbuch von Peter Carnavas: ›Der Elefant – Eine Geschichte gegen die Traurigkeit‹. Ein berührendes Buch – findet ALEXA SPRAWE.

Tür in die Zukunft – Fenster in die Welt

Kinderbuch | Arche Kinder Kalender 2017 365 neue, unverbrauchte Tage hat das neue Jahr zu bieten. 52 Wochen, von denen noch keiner weiß, wie das Wetter sein wird und was auf der Welt geschehen wird. Einen ganz besonderen Begleiter durch das kommende 2017 empfiehlt ANDREA WANNER