Lite Ratur | Wolf Senff: Krähe
Sicher. Wenn einer seine Beine nicht bewegt, kann er das Schreiben vergessen. Schon gut, Krähe. Neulich hieß es noch, das Wandern sei des Müllers Lust. So ändern sich die Zeiten, findest du nicht?

Maschinen sind fein ordentlich am Rand der Bürgersteige geparkt, wie es sich gehört, eine neben der anderen blitzt wie Edelstein unter der Sonne, die meisten schwarz, klar, Schwarz als modischer Farbton, Zeitgeist ist schwarz, nur hier und da sticht mal Farbe heraus, eine gelb, und auch mal flammend rot, ein Grünton mal giftig, mal gräsern, und allesamt artig neben einander abgestellt.
Du kannst flanieren ohne Ende, brave Leute sitzen geschwätzig in offenen Bars und lassen sich nachschenken. Auf dem Spielbudenplatz eine Band, so tanzt der Bär, der Mensch will Spaß, die Reeperbahn ist übervölkert, andere Standorte sind Mönckebergstraße und Großmarkt, kannst du auch hin, siehst du nichts anderes.
Passanten setzen sich am Bordstein hin, um den röhrenden Ton zu genießen, wenn die Motoren vor der Ampel aufdrehen und die Geräte bei Grün donnernd über den Teerbelag brettern. Das wird ein Gefühl sein, Krähe, als würde man fliegen, verstehst du, Bodenhaftung über zwei Reifen, die Hände am Lenkrad und lockerer Sitz wie im Ohrensessel oder, nein, was sagst du, Fliegen sei anders? Sei’s drum, du musst es ja wissen. Der Glanz der Maschine färbt ab auf den Fahrer wie Cabrio auf Tattergreis oder wie diamantbesetzter Rollator auf Hüftgelenkpatienten.
Die geparkten Karossen sind von überall her – hier fünf aus der Frankfurter Ecke, dort drei aus Norwegen und Dänemark, dann einige aus dem Dreiländereck um Aachen –, und Krähe, die lokalen Medien verklären das Treffen als kulturelles Großereignis und preisen es wie sie Hafengeburtstag preisen, Cyclassics, Triathlon oder Hamburg-Marathon und sich schon auf Olympia freuen, die wievielte Bewerbung ist das mittlerweile und ist die Stadt nicht neulich erst mit der Schwimmweltmeisterschaft durchgefallen, man streckt sich zur Decke im Konkurrenzkampf der Städte.
Gut, ich will das nicht kleinreden, Krähe, die Teilnehmer freuen sich klar auch darauf, alte Freunde wiederzusehen. Ach du bist auch hergefahren? Wo ist denn der mit der blauen ›Fat Boy‹ aus Leonberg? Wie hieß er gleich? Umgestiegen auf Kawasaki? Ist das wahr? Was für Elend. Ich meine, ihr hättet ihn doch trotzdem mitbringen können.
Stimmt, gelegentlich findest du eine Kawasaki dazwischen, auch eine Honda, eine wunderschön türkisfarbene Royal Enfield aus Passau, und klar, sogar mal eine Piaggio, erdfarben, aber nach diesen Ausnahmen musst du suchen, und der Harley-Fahrer wird herablassend lächeln.
Royal Enfield ist die älteste produzierende Motorradmarke auf dem Planeten, indische Produktion, wer wäre darauf gekommen, ursprünglich war’s ein englischer Hersteller für Fahrräder und Waffen, das erste Motorrad dann 1901, zwei Jahre bevor Harley-Davidson gegründet wurde, und heute ist ihre ›Bullet 500‹ eines der meistgebauten Motorräder, so sieht’s aus.
Mach dich schlau an einem solchem Nachmittag, Krähe, jeder Tag ist lehrreich. Du schlenderst unbeteiligt, dort ein ›Fat Boy‹-Gespann, Preisniveau für Zahnärzte, Top-Juristen, Europa-Abgeordnete. Nicht mal mein Freund aus gemeinsamer Schulzeit, Apotheker in Lüneburg, möchte da mithalten, im Sommer fährt er auf seiner BMW mit anderen die Adriastrecke bis runter nach Albanien.
Ein paarmal, Krähe, stehst du vor einer ›Black Magic‹ oder einer ›Custom Bike‹, der Lenker so extrem schräggestellt, dass du dich fragst, wie einer bei diesem Wendekreis eine Serpentine bewältigt. Wird halt vorzugsweise gerade Strecke fahren. Seit neuestem hört man, Harley präsentiere ein Fabrikat mit Elektromotor, sie möchten mit der Zeit gehen, und diese ›LiveWire‹, sie tuckert nicht, sie surrt.
Siehst du mal, Krähe, wie lehrreich ein sonniger Nachmittag sein kann, die ›Night Rod‹ in schwarz, mattschwarz, eine ›Black Tiger‹ massiv mit Chrom auf Hochglanz gestylt, aber sicher, alles vom Feinsten, doch wenn du dich im Internet umtust, Krähe – viele dieser strahlenden Geräte werden bei geringer Laufzahl wieder verhökert. So werden die Sehnsüchte unserer Zahnärztinnen und Zahnärzte vermarktet, und letztlich, Krähe, du merkst da ist der Wurm drin, darauf läuft es hinaus, der Wurm ist überall.
Neuigkeit nutzt sich ab, Krähe, wissen wir längst. Glanz verfliegt im Nu, und du siehst die prächtigen Maschinen gebraucht im Angebot. Man war halt mal dabei mit seiner ›Softtail Night Train‹ schwarz, Umbau, Armaturen von Rebuffini, Lenker Bike Project, die Penzl Auspuffanlage über Seilzug laut und leise verstellbar – das war’s, und liefert immerhin Gesprächsstoff für den rotweingetränkten Abend, Aufnahmen werden herumgereicht, wie schön, das waren Zeiten, auf dem Flachbildschirm spielt ein Video vom Fahren auf der Reeperbahn.
»The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere/ The ceremony of innocence is drowned;/ The best lack all conviction, while the worst/ Are full of passionate intensity« – Zeilen aus ›The Second Coming‹, das William Butler Yeats im Jahr 1919 verfasste, nach dem ersten Weltkrieg.
Was meinst du, Krähe, ob er diese Zeilen auch für dieses Harley-Event gelten ließe? Ein bisschen krass vielleicht, aber überleg mal: »Die Flut, bluttrüb, ist los, und überall/ Ertränkt der Unschuld feierlicher Brauch;/ Die Besten zweifeln bloß, derweil das Pack/ Voll leidenschaftlichem Erleben ist«. Kann man so sehen, sagst du? Auch gut. Schon vergessen.