Immer von vorn anfangen

Roman | Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht

Der 69-jährige Silvio Blatter gehört zu den wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Mit seiner ›Freiamt‹-Trilogie (bestehend aus den Romanen ›Zunehmendes Heimweh‹, ›Kein schöner Land‹ und ›Das sanfte Gesetz‹), in der er das Leben in seinem heimatlichen Kanton Aargau detailliert beschrieb, wurde er weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Von PETER MOHR

blatterIn seinem neuen Erzählwerk entwirft Blatter ein Portrait über zwei Generationen. Isa und Severin Lerch befinden sich an der Schwelle zum Ruhestand, ziehen Bilanz und ordnen ihre Lebensentwürfe neu. Isa ist eine erfolgreiche Radiomoderatorin, und Severin hat es als Bildhauer zu respektablem Ruhm gebracht. Sie ließen sich gegenseitig stets Freiheiten und führten eine moderne Beziehung: »Es war keine Seltenheit, dass sie ein paar Tage nichts voneinander hörten.«

Anders ihre beiden erwachsenen Kinder: Tochter Sandra, die einen Secondhandshop betreibt, ist ein typischer Familienmensch, und Sohn Matthias, der als Personalcoach (»Ohne Führung macht jeder, was er will.«) deutlich erfolgreicher ist als im Privatleben (er lebt getrennt von Frau und Tochter), durchlebt offenkundig eine postpubertäre Phase. Die Beziehungen der beiden Kinder sind wesentlich komplizierter und störungsanfälliger als die ihrer Eltern, die sie dennoch misstrauisch beäugen. Sandra ist bestürzt, als sie vom Seitensprung ihres Mannes Rainer erfährt, Matthias sucht krampfhaft nach einer vorzeigbaren, möglichst jungen Frau.

»Ich muss immer wieder neu beginnen, immer wieder von vorn anfangen, ohne zu wissen, warum das so ist. Eine Sisyphusarbeit. Weiter, weiter, immer weiter«, erklärt Vater Severin, der auch als Mittsechziger immer noch voller Energie und Tatendrang steckt. Dies ändert sich auch nicht, als er in seinem Atelier von Unbekannten überfallen und später festgenommen wird, weil er einen Angreifer verletzt hat. »Seit der langen Nacht ohne Schlaf, die Severin auf der Pritsche einer kargen Zelle verbracht hatte, waren ein paar Wochen verstrichen. Die Bäume standen noch im Laub. Die Wiesen waren noch grün. Doch die Grundlage seines Daseins war zerlegt worden.«

Bei Silvio Blatter geht es um zentrale Weichenstellungen im Leben, um unterschiedliche Entwürfe zum Glücklichsein, ums Bilanz ziehen und Hinterfragen der eigenen Existenz. Die Familie Lerch hat sich dabei mehr und mehr auseinander bewegt. Aus alternierenden Perspektiven beleuchtet der Autor die knisternde Unruhe, die gegenseitige Skepsis, das Verschwinden des Vertrauens, ohne es allerdings zum »emotionalen Knall« kommen zu lassen. Mutter Isa sieht sich für die Zeit nach ihrer Pensionierung nach einem Job bei einem Privatsender um, Vater Severin verliert sein geliebtes Atelier in einer Kiesgrube, weil es einem geplanten See weichen soll. In den alten Lerchs steckt deutlich Elan als in ihren Kindern. Matthias sucht weiter nach einer Frau, Sandra landet auf der Couch eines Ehetherapeuten.

Silvio Blatter ist ein anrührendes Familienportrait gelungen. Ein leises Buch, ganz ohne Effekthascherei, eines, in dem es auf die Zwischentöne ankommt. Glück ist bei den Lerchs offensichtlich keine Frage des Alters. Isa und Severin »zählen ihre Tage nicht«. Sie leben und genießen sie – trotz mancher Enttäuschung und harter Rückschläge. »Carpe diem« möchte man ihnen zurufen.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht
München: Piper Verlag 2015
291 Seiten. 19,99 Euro
Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Macht freundlicher Worte

Nächster Artikel

Karthago wird zerstört werden!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Abgeschoben ins Ungewisse

Roman | Katja Lange-Müller: Drehtür »Irgendwann saß ich senkrecht in meinem Bett und dachte, was wäre eigentlich aus dir geworden, wenn du weiter im Krankenhaus gearbeitet hättest? Das war die Initialidee für das Buch«, hatte die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller in einem Interview über das Entstehen ihres neuen Romans ›Drehtür‹ berichtet. Von PETER MOHR

Trio mit einem Toten

Roman | Diane Broeckhoven: Ein Tag mit Herrn Jules

Die Kinderbuchautorin Diane Broeckhoven schreibt ihren ersten Erwachsenenroman – ein ebenso wunderliches wie auch ein wunderbares Buch über ein Rentnerpaar. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Kettenspiele

Roman | Adrian McKinty: The Chain Der heute in New York lebende Nordire Adrian McKinty (Jahrgang 1968) hat sich als Thrillerautor vor allem einen Namen mit der bis dato siebenbändigen Reihe um den in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts als »katholischer Bulle« in der Nähe von Belfast lebenden Mordermittler Sean Duffy gemacht. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Verwandlung in Newark

Roman | Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika

Der längst literaturnobelpreiswürdige amerikanische Erzähler Philip Roth hat sich in seinem jüngsten Roman das Schicksal der amerikanischen Juden ausgemalt, wenn 1940 der isolationistische und antisemitische Fliegerheld Charles A. Lindbergh US-Präsident geworden wäre und nicht Franklin D. Roosevelt.

Leise Aufschreie

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung Als der auf dem elterlichen Bauernhof im niederösterreichischen Eberstalzell aufgewachsene Reinhard Kaiser-Mühlecker vor elf Jahren mit dem schmalen Roman Der lange Gang über die Stationen debütierte, wirkte seine Prosa über das bäuerliche Leben in der Provinz wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Längst ist der 36-jährige Schriftsteller kein Geheimtipp mehr. Von PETER MOHR