Außergewöhnliches

Jugendbuch | Diana Sweeney: Am tiefen Grund

Auf dem hiesigen Kinder– und Jugendbuchmarkt hat sich in den letzten fünfzehn Jahren ein stilles Phänomen gezeigt, ungewöhnliche Bücher aus Australien und Neuseeland. Strittige Themen, Originalität in Präsentation und Formen, eine ausgezeichnete Sprache, aufregende Illustrationen, andere Sichtweisen auf Menschen bringen ganz besondere Geschichten hervor. So auch bei Diana Sweeneys Debütroman, der eine weitere Perle in der Kette außergewöhnlicher Jugendbücher aus Australien ist. Von MAGALI HEISSLER

GrundDie Flut, überraschend und schrecklich, hat in der kleinen Gemeinde im Mündungsgebiet tiefe Wunden hinterlassen. Tom hat ihre Schwester und ihre Eltern verloren, ihr Heim und einen Teil ihres Seins. Ihre letzte lebende Verwandte, ihre Großmutter, wohnt im örtlichen Pflegeheim. Tom lebt bei dem Fischer Bill, der sie für einen Jungen hält. Er stellt nie Fragen und bietet eine Art Schutz, glaubt Tom. Als Bill zufällig entdeckt, dass Tom ein Mädchen ist, merkt sie, dass sie sich gründlich geirrt hat. Kurz darauf ist Tom, knapp fünfzehn, schwanger.

Vor das aktuelle Problem gestellt, muss Tom, wie sie sich immer noch nennt, anfangen, sich dem Leben zu stellen. Bisher hat sie sich mit den schrecklichen Erlebnissen arrangiert, indem sie Reales und Irreales mischt. Ihr toter Großvater, den sie nur aus Geschichten Nanas, der Großmutter, kennt, ist ihr bester Freund ebenso wie der knapp ein Jahr ältere und sehr lebendige Jonah. Sie spricht viel mit Fischen im Aquarium der Zoohandlung und bald auch mit dem Fischlein. Genauer gesagt meldet sich das Fischlein bei ihr. Das Fischlein ist Toms noch ungeborenes Kind, aber bereits eine äußerst energische Person.
Zwischen Lebenden und Toten sucht Tom ihren Weg in eine Zukunft, in der sie mit den Wunden der Vergangenheit und ihrer Gegenwart leben kann. Ein Leben, in dem sie Holly ist und trotzdem Tom nicht vergessen muss.

Von Geistern und Menschen

Sweeney beleuchtet ihre Protagonistin von einer so ungewöhnlichen Seite, dass man nicht einmal auf den Gedanken kommt, man hätte es hier mit einer der inzwischen üblichen Trauma-Bewältigungsstorys zu tun, die die Regale und in ihrer platten Gefühlsseligkeit inzwischen leider auch das Denken verstopfen. Tom ist eine Schlafwandlerin, sie wandert in einer Zwischenwelt, in der Realität und Fantasie verschwimmen. Tatsächlich sucht sie Hilfe für die Bewältigung ihrer Ängste. Ob die Hilfe von einem Toten, einem Seepferdchen oder von Lebenden kommt, ist nicht wichtig. Sie tastet sich voran, in Richtung Licht, in Richtung Morgen. Dieses Schweben zwischen Welten, ähnlich dem Treiben im Wasser, hält die Autorin durchgängig aufrecht. Die Covergestaltung sowohl von Schutzumschlag als auch vom Bucheinband bis hin zur Farbgebung des Vorsatzes und der Gestaltung des Titelblatts geben die Wassermotivik ganz wunderbar wieder.

Dass jede Figur dieser Geschichte schnell zu einer starken Persönlichkeit wird, macht das Verständnis nicht einfacher, erhöht aber nur die Qualität des Ganzen. Ob Oscar, die Riesenbarbe, Jonah, der zuverlässige Freund mit einem Geheimnis oder Nana, die wunderbar lebendige Großmutter, sie sind alle dazu geeignet, dass man sich als Leserin in sie verliebt, während man mit Tom leidet.

Hinreißend ist das Fischlein, das Tom nicht nur einmal den Kopf zurechtsetzt. Die Gespräche zwischen den beiden sind pointiert, was vor allem am Fischlein liegt, das meist das letzte Wort hat. Das verhindert jeglichen süßlichen Trost, nach dem ein derartiges Schreckensszenario eigentlich schreit, der aber tatsächlich nicht realistisch ist. Tom bekommt ihren süßen Trostmoment ganz am Ende nach einem weiteren Verlust und da ist er nicht mehr süß, sondern nur noch schön.

Menschsein, was ist das?

In all dem fantastisch Anmutenden – es taucht sogar eine Meerjungfrau auf und ein verliebtes Gespenst – gibt es eine realistische Geschichte über das Weiterleben nach einer Katastrophe. Tom/Holly ist nicht die einzige, die ihre Familie verloren hat, auch Jonah vermisst seine Eltern. Sieht man genauer hin, trauert die ganze Gemeinde. Die Handlung erstreckt sich weit über ein Jahr. Immer wieder tauchen Hinweise auf, wie schwer es ist, mit den Folgen der Flut umzugehen. Gedenksteine aufstellen oder Kreuze? Was denken Menschen, die Namen auf Gedenksteinen lesen, über die Toten? Entstehen dabei etwa Paarbildungen, die es in Wahrheit nie gegeben hat? Was heißt Erinnerung? Was geschieht mit den Kisten voller Spenden, die in einem Schuppen stehen und die noch keiner den Mut hatte, völlig auszupacken? Wessen Liebe hält länger, die der Toten, die der Lebenden?

Hinter den Fragen lauern die Ängste, vor allem die Angst, nicht zu wissen, wie die Eltern, die Geschwister gestorben sind, in einigen Fällen nicht einmal, wo. Manche Tote wurden nicht gefunden.

An Tom zeigt Sweeney, wie ein Teenager nach einem solchen Erlebnis wieder leben lernt. Es dauert lange und die Probleme enden trotzdem nicht. Bill z.B. entpuppt sich als nicht nur unangenehm, sondern auch als gefährlich. Erstaunlich und faszinierend ist der Umgang der Menschen untereinander. Niemand drängt, niemand weiß alles besser, will bestimmen. Das soziale Gefüge scheint vor allen durch Freundlichkeit und einem Mitfühlen zusammengehalten, das stärker ist als Konflikte und Ängste. Tom wird tatsächlich an der Hand genommen, aber mit Rücksicht auf ihr eigenes Tempo. Wer alt, wer jung ist, ist dabei ebenso wenig ausschlaggebend wie die Frage, wer am Leben ist und wer tot. Das ist ein interessanter Blick darauf, was Menschsein bedeuten kann.

Das Buch enthält eine Fülle solcher eigenen Blickwinkel. Auch wenn ausschließlich aus Toms Sicht erzählt wird, lässt Sweeney genug Raum, um weiterdenken zu können. Nicht immer ist Tom ehrlich, oft sind ihre Ängste zu stark. Der Text, so gekonnt übersetzt, dass keinen Augenblick Fremdheit aufkommt, ist trotz seiner Klarheit anspruchsvoll und braucht geübte Leserinnen, um ihn mit Gewinn aufzunehmen. Wer sich darauf einlassen will, muss, um im Bild zu bleiben, ins kalte Wasser springen und sich diesem Element anvertrauen. Die Autorin hat jedes Recht, das von ihren Leserinnen zu fordern. Sie bietet schließlich einen echten Schatz dafür.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Diana Sweeney: Am tiefen Grund
(The Minnow, 2014). Übersetzt von Karen Nölle
Hamburg: Königskinder Verlag 2015
270 Seiten. 17,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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